Gerald Pirner, Pietá III (Rachael Dichter, Tiffany Taylor, Ka Rustler, Clarissa Dyas und Gabriele Christian), 2023 © Gerald Pirner

You are into the dark

Anmerkungen zur Performance "Into the Dark" von Jess Curtis/Gravity

Aus welch merkwürdigen Vorstellungen das Bild der Sehenden von den Blinden entspringt, war zuallererst an der Dunkelheit und den Reaktionen der sehenden Besucher*innen zu sehen, genauer, am Schock, den die erfahrene Dunkelheit in manchen Sehenden auslöst.

Nachdenken über Dunkelheit sollte nicht bei Blindheit beginnen, Dunkelheit hat nichts mit Blindheit zu tun, auch wenn sehende Menschen in der Dunkelheit nicht mehr sehen, sich dabei für blind halten.

Blindheit ist das Verschwinden aller Unterschiede. Blindheit ist Monochromie.

Ein Beispiel: Ich als total Blinder befinde mich immer in einem Farbzustand, ich sehe etwa alles Grün, einem Lindgrün, ein anderes Mal alles Bordeauxrot wieder ein andermal alles in einer Art Pariserblau, ein anderes Mal in einem strahlenden braunen Ocker, obwohl ich diese Farben natürlich nicht sehe und sehen kann. Ich nehme diese Farben wahr sie sind für mich zu sehen. Ich bin aber diese Farben, es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen und mir, sie sind mir nicht gegenüber wie etwas, das ich anschauen könnte. Ich bin sie einfach. Es sind Hirnzustände, die etwas auch mit meiner jeweiligen Stimmung zu tun haben.

Dazu muss angemerkt werden: je dunkler die Farbe, die ich bin, desto heller mein Gemütszustand. Im Schwarzen ist meine Stimmung am hellsten, wenn alles weiß ist, habe ich Bluthochdruck, bin ich gestresst.

Nehmen wir ein anderes Beispiel, das Dunkel oder um es einfacher, vielleicht denkbarer zu machen, ich bin in einem Dunkel, bin in einem Schwarz, es gibt keine Unterschiede in diesem Schwarz, nichts hebt sich von ihm ab. Alle Unterschiede, alle Unterscheidbarkeiten, die ich wahrnehme, nehme ich mit anderen Sinnen wahr, mit den Ohren etwa, mit meiner Haut beim Berühren oder Tasten von verschiedenen Materialien, im Geruch, einem Raumgeruch etwa, aber auch mit meinem Spüren, dem Erspüren einer Dichte, von Distanzen, von Stimmungen, von Nähen.

Wenn ich dann einen absolut dunklen Raum betrete und der Veranstaltungsraum von Into the dark ist vollkommen dunkel, nehme ich diese Dunkelheit nicht visuell wahr, ich spüre sie und zu meinem Spüren kommt natürlich das Spüren der anderen Menschen im Raum, ihre Nähe, ihr Geruch. Das ist für mich aber an sich nicht anders als im Hellen. Die anderen, die sehenden Menschen um mich herum aber verhalten sich anders und sind auch anders wahrzunehmen: sie bewegen sich langsamer, vorsichtiger, sie stoßen gegen Gegenstände, die sie nicht sehen, deren Anstoßen ihnen aber auch nicht so wichtig ist. Sie wollen überhaupt erst einmal an einen Punkt, von dem aus sie sich orientieren können, von dem aus sie ihre Situation reflektieren können.

Aber das macht das Dunkel für mich als Blinden nicht aus, das Dunkel ist zu spüren, es scheint über einen anderen Aggregatszustand zu verfügen. Das Fehlen des Bildes lässt die Sehenden in einen vollkommen anderen Raum treten, nichts ist da an Visualität, das sie ablenkte, sie sind in diesem Dunkel vor allem allein mit sich und das kann auch sehr furchtbar für sie sein.

Aber noch einmal von einem anderen Punkt aus, noch einmal von einer anderen Zeit aus, noch einmal von vorne.

Als sich im März 2022 der Choreograf Jess Curtis, die Performerin und Tänzerin Rachael Dichter und der Performer und Tänzer Sherwood Chen sowie der blinde Fotograf Autor und Performer Gerald Pirner wie seine Assistentin Heidi Prenner in Stolzenhagen bei Berlin zur Erarbeitung einer neuen Performance trafen, stand nur eines fest: es muss ganz dunkel sein. In vielen Diskussionen kristallisierte sich neben dem Dunkel als eigentlich wichtigste Performerin der Raum selbst heraus.

In einem beträchtlichen Zeitaufwand wurde dann auch später in Berlin und San Francisco ein absolut dunkler Raum erzeugt, der mittels eines Leitsystems aus Seilen auf dem Boden von sehenden wie blinden Performer*innen bespielt werden konnte. Das eigentliche Training startete dann im Herbst 2022 in San Francisco und wurde mit einer Preview abgeschlossen. Es wurde in Berlin im Herbst 2023 wieder aufgenommen und beinhaltete genauso politische Diskussionen über den Begriff des Dunkels, seine rassistischen, kolonialistischen Konnotationen und deren Vernutzungen und Ausrichtungen im kapitalistischen Ausbeutungssystem. Wahrnehmungsphilosophische Diskussionen rund um Körper, Spüren und die Rolle anderer Sinne bei der Wahrnehmung, zu dem auch ein Spaziergang bei Vollmond in Tegel gehörte, bereiteten die Performer*innen auf die Arbeit im Dunkel vor. Dazu kamen praktische Übungen zur Orientierung im Dunkeln, zu denen die beiden blinden Performer*innen Tiffany Taylor und Gerald Pirner mit Übungen und Überlegungen beitrugen und Workshops hierzu ausrichteten. Dazu kamen und ganz zentral freilich, noch die Arbeit am Chorgesang und das gemeinsame Erarbeiten von Choreografien im Dunkeln. Jeder, jede der Performer*innen steuerte ein kleines Stück Choreografie bei und aus diesen Erarbeitungen setzten sich Teile der ganzen Performance zusammen.

Aber: Was ist "Into the Dark".

Ein Laboratorium der Sinne und ihrer verschiedensten Ausformungen, verschiedensten Äußerungen, das Erfahren eines Raumes diesseits seines Bildes, das Erfahren eines Raumes als Gespür, als akustische Skulptur, als haptisch-taktile Versuchsanordnung. Dunkel als von einem Raum ermöglichtes Nachdenken aus der Unendlichkeit eines Inneren eines jeden, einer jeden von uns. Dunkel als die Unmöglichkeit, sich hinter Bildern zu verstecken.

Dann aber kommt das Licht zurück und es tut dies in kleinen Dosen, tut dies aus der Hand eines Blinden, der seine Kolleg*innen als eine lebende Skulptur fotografiert.

All dies erfährt zudem und angeregt durch die Ereignisse in Gaza eine Travestie des Militarismus genauso wie explodierende Sterne und ein nihilistisches Achselzucken, das in Anbetracht der jahrzehntelangen Unterdrückung Palästinas genauso im Stück thematisiert werden wie die Toten auf beiden Seiten nach dem 7.10.23 die im Stück ebenso ihren Platz finden.

Das Publikum wird im Foyer versammelt, ihm wird mitgeteilt, dass es in einen vollkommen dunklen Raum treten wird. Es wird von den Performer*innen einzeln hineingeführt, die sie auf ihre Plätze begleiten. Als sich die Tür des Dunkels öffnet, gibt es bereits die ersten, die gar nicht hinein wollen. Es werden Knicklichter ausgegeben, damit Leute aus dem Dunkel herausgeholt werden können, wenn sie das Dunkel nicht aushalten und davon gibt es doch einige. Noch mehr sind versucht, sich herausholen zu lassen, überwinden jedoch ihre Panik und sind sich selbst dafür hernach dankbar.

Als alle dann sitzen tritt der Choreograf Jess Curtis vor das Publikum und heißt es willkommen.

Im Dunkel

Ein Schlag. Ein weiterer. Ein Streifen. Ein unterbrochenes Streifen. Ein rhythmisch unterbrochenes Streifen. Bewegung und in der Bewegung ersteht ein Raum als Hörbarkeit, als Spürbarkeit.

In der Bewegung ersteht eine Kommunikation, werden Geräusche, wird Atmen, werden Bewegungen aus dem Raum von der Bewegung selbst erfahren, die den Raum von daher ganz anders erfahren lassen. Es ist eben nicht einfach nur ein Performer, der sich da bewegt. Es ist eher die Bewegung im Raum, die den Performer bewegt, indem sie den Raum hörbar macht, ihn spürbar macht, ihn sich in ihm vollziehen lässt.

In der Bewegung ersteht eine Kommunikation, werden Geräusche, wird Atmen, werden Bewegungen aus dem Raum von der Bewegung selbst erfahren, die den Raum von daher ganz anders erfährt und es ist eben nicht einfach ein Performer, der sich da bewegt, es ist eher die Bewegung im Raum, die den Performer bewegt, indem sie den Raum hörbar macht, ihn spürbar macht.

Die Bewegung kommt erst im Raum zu sich. Erst die Hörbarkeit, die Spürbarkeit, erst das Fühlen eines Körpers, der sich bewegt, erst die Reflektion des Körpers in einem Raum kann Bewegung sein.

In der Dunkelheit aber fehlt all diesen Äußerungen der Bewegung das Vereinheitlichende, fehlt ihnen das Erkennbare, das Benennbare dessen was da geschieht. Ein Körper, der sich ungesehen im Dunkel bewegt ist nichts als das Spüren des Eigenen, des sich bewegenden Körpers. Es ist kein Körper, der durch sein Bild bekleidet ist. Er drückt in gewisser Weise eine Nacktheit aus. In der Dunkelheit ist ein jeder Körper bildlos und daher von keinem Bild bekleidet.

Denken wir diese Vorstellung metaphorisch weiter, so sind es die reinen Nerven, die auf entblößte Nerven treffen.

In kleinen Mosaiksteinchen bildet sich ein akustisch-non-visuelles Bild, das manchmal Licht

hereinlässt aber nur, um die Sehnsucht nach der Dunkelheit wieder zu wecken, um eine Desorientierung herbeizusehnen, da das kurze Licht alles doch so klein erscheinen lässt oder auch wieder viel zu groß.

Ein blinder Mann allein, der die Orientierung im Raum vorführt, der um den Raum mit seinem Stock läuft und schließlich diagonal durch ihn hindurch.

Ein elektronischer Sound kommt auf, ein wenig unheimlich und die Unheimlichkeit noch durch übertriebene Atemgeräusche wie orale Schlurf- und Stöhngeräusche unterstrichen. Die Anwesenheit einer anderen gespürt und von diesem Spüren auch gesprochen: „Ich spüre dich in meiner Nähe. Ich spüre deine Hand an meinen Arm.“ Ein Duett zwischen einem blinden Mann und einer sehenden Frau, an dessen Ende und körperlichen Annäherungen des Fühlens und Spürens sie sich, die Sehende und der Blinde, versichern, in einer Höhle zu sein aber letztlich zu spüren, dass der oder die andere den Partner die Partnerin verlassen will.

Ein Suchen. Ein Finden. Ein verbales Abtasten. Ein Spüren und ein Sprechen von diesem Spüren. Ein Beschreiben. Gespräche der gegenseitigen Versicherung von Existenz, von Körpern, ein Spiel miteinander, ein Tanzen miteinander, ein Singen, kleinere Choreografien, die Kollektivität als Gemeinsamkeit erfahrbar gemacht.

Eine andere Kollektivität, das Publikum: ein jeder, eine jede allein im Dunkel. Entwickeln eines Gespürs für die Menschen um einen herum, um eine herum.

Dann doch immer wieder leichte Helligkeit, die, wenn sie kommt, eher verstört.

Ein Raum wird mit einem Stock ertastet, wird von ihm ausgeschlagen, wird angesprochen, seine Wahrnehmung wird angesprochen und dass der Performer der Raum werden wird. Dann die Verneinung: „Nein, ihr werdet der Raum.“ Unheimliches leises Gewummer den Raum erfüllend und ein Mensch nähert sich einem Menschen. Sie bemerken einander, versichern sich einander.

In drei Duetten stellen sich die sechs Performer*innen gegenseitig vor, tasten sich gegenseitig performativ und verbal ab, scherzen miteinander, tanzen miteinander und kommen in einem Lied zu einem Chor zusammen, über dem ein Sänger etwas von Unendlichkeit singt und vielleicht vom Tod.

Der Atem kommt ins Zentrum einer Choreografie, in kleinen Sequenzen wird in Bewegungen der Körper unterschiedlich von allen durchgespielt, eine erste Kollektivität, die sich am Ende noch einmal wiederholen wird.

Gerald Pirner, Vom Dunkeln V (Selbstportrait mit Rachael Dichter und Sherwood Chen), 2022 © Gerald Pirner

Konzipiert und geleitet von: Jess Curtis Kreation & Aufführung: Rachael Dichter, Gerald Pirner, Clarissa Dyas, Gabriel Christian, Ka Rustler, Tiffany Taylor, mit den geschätzten Beiträgen von Sherwood Chen

Bühnenbild & Kostümdesign: Michiel Keuper und Juliane Längin

Komposition & Sounddesign: Sam Hertz

Audiodeskription: Swantje Henke

Probenassistenz: Styles Alexander

Produktionsleitung Berlin: Magda Garlinska

Produktionsleitung San Francisco: Aiano Nakagawa

Technische Leitung & Lichtdesign: Gretchen Blegen

Technische Leitung SF: Jessi Barber

PR/Vertrieb Europa: Julia Danila

PR San Francisco: Mary Carbonara

Foto: Gerald Pirner