Der Rahmen, oder Gespräch mit der Fotografie eines Spiegel, 2023. Foto: Aya Schamoni

Der Rahmen

oder Gespräch mit der Fotografie eines Spiegels

Eine Performance des blinden Fotografen Gerald Pirner mit Marie Fuß (Performerin) und Gabriella Gonçalves Pretelli (Audiodeskription) anlässlich der Ausstellung im Schaukasten des U-Bahnhofes Kleistpark in Berlin

Wiener Straße Berlin. Ein Antiquitätenhändler im Souterrain. Ein Blinder streift mit den

Händen über Schränke. Er sei nicht blind, sagt einer und der Blinde lacht. Sein Sehen sei im Hinterkopf und er könne es ihm wieder hervorholen. Der Blinde lacht noch einmal. Er solle auf einen Zettel schreiben, warum er erblindet ist.

Tage später kommt der Blinde mit dem Zettel wieder und das Antiquitätengeschäft ist spurlos verschwunden.

Der Betonboden in einem U-Bahnhof. Ein blinder Performer in schwarzem Overall liegt auf dem Betonboden. Vor ihm in einiger Entfernung eine auf eine Platte aufgezogene Fotografie. Der Blinde liegt auf dem Bauch, im Krabbelmodus: linker Arm und linkes Bein angewinkelt, rechter Arm und rechtes Bein locker ausgestreckt. Langsam setzt er sich krabbelnd in Bewegung, wobei der Schwung scheinbar aus dem Wechsel der angewinkelten Haltung aus Armen und Beinen herrührt, die in den Modus der entspannten Streckung kommen und wieder zurück. In einer schaukelnden Kreislaufbewegung schiebt sich der Performer über den Boden.

Er findet das Bild und berührt es vorsichtig. Er hält inne. Er tastet es behutsam ab.

„Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an ein Haus in Venedig. Ich erinnere mich an die Treppe in diesem Haus. Ich steige die Stufen hoch und stoße auf einen geschnitzten Holzrahmen. In seinem Inneren ein Spiegel.“

„Du hättest den Spiegel bei der ganzen Aktion fast von der Wand gerissen,“ sagt die Performerin.

Und erneut streift der Blinde über das Bild.

Er erhebt sich, nimmt das Bild auf und stellt es an die Glaswand des Schaukastens.

„Vielleicht beschreibt die Audiodeskriptorin kurz, was zu sehen ist.“

„Der blinde Performer, der jetzt vor dem Bild mit dem Titel Der Venezianische Spiegel I steht, schaut auf ein Selbstporträt von sich vor einem Spiegel, er ist also jetzt dreimal zu sehen."

Der Rahmen, oder Gespräch mit der Fotografie eines Spiegel, 2023. Foto: Aya Schamoni

Der blinde Performer nimmt das Bild und geht begleitet von der Performerin um den Schaukasten und in ihn hinein. Er stellt das Bild gegen die Glaswand mit der Sichtseite zum Publikum. Er versucht hinter dem Bild zu verschwinden, was sichtbar misslingt.

Er steht auf und geht mit dem Bild wieder hinaus und zur Außenwand des Schaukastens.

„Wenn ein Bild fertig ist, kann der Fotograf hinter ihm verschwinden. Das Bild ist zwar fertig, aber vielleicht bin ich ja noch nicht mit ihm fertig und ich kann deshalb nicht hinter ihm verschwinden. Als ich auf den Spiegel gestoßen war, als ich ihn berührte, fühlte er sich merkwürdig an. Er war nicht durchlässig. Er wich mir aus, fühlte sich stumpf an. Er fühlte sich an, als ob er selbst blind werden würde. Ich ließ die Assistentin die Kamera aufstellen und holte die Maglite. Ich machte ein Selbstporträt vor dem Spiegel. Ist denn, Gabriella, das auch auf dem Foto zu sehen, oder war das nur zu spüren.“

„Auf dem Foto sind Schlieren zu sehen, die bestimmt auch ertastet werden konnten.“

Die Performerin bringt einen leeren Holzrahmen und hält ihn dem blinden Performer hin.

„Hier ist der Rahmen.“

„Der Rahmen ist die Grenze zwischen den sichtbaren Bildern und den unsichtbaren Bildern in unseren Köpfen, die die sichtbaren Bilder hinter sich zum Verschwinden bringen. Der Rahmen ist hier aber auch die Grenze zwischen den sichtbaren Bildern und ihrem Wechsel.“

Er nimmt den Rahmen. Streift sanft über ihn. Spürt seine Kraft. Spürt, wie der Rahmen ihn hinter sich her zieht, wie er ihn von sich wegstößt.

Der blinde Performer schlüpft in den Rahmen. Hält inne. Nimmt ihn wieder ab und legt ihn neben sich auf den Boden. Langsam nimmt er nun die Pose auf der Fotografie ein. Er wirkt sehr verbissen, sehr steif und die Audiodeskriptorin korrigiert seine Haltung, er sei zu steif, zu verkrampft.

„Richte mich so aus, wie ich auf dem Bild aussehe, welche Pose ich dabei einnehme."

Sie korrigiert ihn in seiner Haltung, überprüft immer wieder ihr Werk bis sie zufrieden ist.

„Ich erinnere mich an das Bild des französischen Philosophen mit dem schwarzen Hut auf dem Kopf. Er steht mit ausgestrecktem Arm vor einem Spiegel und deutet mit dem Zeigefinger in den Spiegel hinein und beides Mensch wie Spiegelbild sind zu sehen.

Ich bin blind und nur, indem man mir ein Bild beschreibt, sehe ich in meinem Inneren das Bild. Jetzt erinnere ich mich an das Bild dieses Philosophen mit dem schwarzen Hut.

Jetzt, da ich selbst die Pose noch einmal eingenommen habe, wird die Erinnerung körperlich.

Jetzt wo ich die Pose wieder eingenommen habe, bringt mir das Körpergedächtnis Pose, Bild und die Situation in Venedig zurück.“

Der Rahmen, oder Gespräch mit der Fotografie eines Spiegel, 2023. Foto: Aya Schamoni

Die Performerin: „Erinnerst du dich nicht an einen Garten.“

Blinder Performer: „Ich erinnere mich an einen Garten in der Nähe einer Kirche.“

Die Performerin: „Erinnerst du dich auch an die Madonna aus dem Garten.“

Blinder Performer: „Ich erinnere mich an eine füllige Madonna, die der Priester nicht haben wollte, weil sie für ihn hässlich war. Er ließ sie im Garten vergraben. Dann aber fing die Skulptur zu leuchten an und der Priester grub sie wieder aus, reinigte sie und stellte sie in der Kirche auf.“

Die Performerin: „Sind dort nicht auch Bilder von Tintoretto zu sehen. Erinnerst du dich an Die Anbetung des goldenen Kalbs.“

Der blinde Performer nimmt den Rahmen wieder auf. Er hält ihn vor sich und streicht sanft über ihn der Länge nach. Er legt den Rahmen wieder neben sich auf den Boden.

Der blinde Performer versucht die Pose einer Szene des Gemäldes einzunehmen: eine etwas verkrampfte Hand ausgestreckt nach hinten auf das Bild an der Glaswand des Schaukastens zeigend, den Kopf und den Blick aber abgewandt. Die Performerin korrigiert den blinden Performer in der Pose des Gemäldes, bis sie denkt dass es stimmig ist. Die Audiodeskriptorin beschreibt den blinden Besucher*innen die eingenommene Pose des Gemäldes.

Der Rahmen, oder Gespräch mit der Fotografie eines Spiegel, 2023. Foto: Aya Schamoni

„Was geschieht hier auf dem Gemälde von Tintoretto. Israel versinkt in einer Orgie der Anbetung des goldenen Kalbes und verrät damit seinen Gott. Eine Frau will das, was da geschieht nicht sehen. Ihr Arm deutet darauf hin und sie wendet sich ab und denkt, lieber blind sein zu wollen als diese Gräuel mit ansehen zu müssen.“

Der Performer nimmt erneut den Rahmen auf. Der Rahmen zieht den blinden Performer kurz hinter sich her und wendet sich dann dem blinden Performer zu, um sich über ihn zu stülpen. Der blinde Performer hält sich an den Längsseiten des Rahmens und verkrampft sich zusehends: zuerst die Hände, dann das Gesicht, das den Ausdruck des Schreienden Papstes von Francis Bacon einnimmt, die Augen zusammengekniffen, den Mund weit aufgerissen und im Schaukasten ist das Bild des blinden Fotografen, Gerald Pirner, zu sehen, Sonja Klausen als schreiende Päpstin, beschrieben von der Audiodeskriptorin, die nun beschreibt, wie der blinde Performer langsam wieder entspannt und ruhig die Hände an den Längsleisten des Rahmens liegen lässt.

Wie aus einer Explosion beginnt der Performer nun einen Song von Jimmi Hendrix zu brüllen, um im Verlauf des Singens leiser und besinnlich zu werden: I don't live today. Maybe tomorrow, I just can't say.

Der Rahmen, oder Gespräch mit der Fotografie eines Spiegel, 2023. Foto: Aya Schamoni

Nach dem leise ausklingenden Gesang nimmt er den Rahmen ab. Ein langsamer, ein langer Abschied.

Er geht zum Bild Der Venezianische Spiegel I, das immer noch am Schaukasten lehnt. Er nimmt das Bild wieder auf. Er geht, begleitet von der Performerin, in den Schaukasten. Er lehnt das Bild wieder an die Innenseite des Schaukastens. Die Bildseite nach außen und verschwindet endgültig dahinter.

Er verlässt den Schaukasten und wird von der Audiodeskriptorin gefragt, ob sie sich nicht zusammen auf die Suche nach dem Antiquitätenhändler machen wollen. Er verneint die Frage. „Der Antiquitätenhändler hat mich ja gefunden.“

Der Rahmen, oder Gespräch mit der Fotografie eines Spiegel, 2023. Foto: Aya Schamoni