Der Erblindete und das Gemälde

Zu Simone Kills Malerei (Teil 1)

Malerei als Rückgriff auf das Material, die spezifische materiale Struktur, die in der Fotografie sich in eine Materialität des Fotopapiers zurückzieht, auf dem die Berührung Fingerabdrücke hinterlässt, den Finger, seine Haut dabei klebrig festhaltend. Das Gemälde wiederum zieht sich scheinbar in den Malgrund zurück, hinterlässt dabei aber spürbare Rückstände, Spuren, teils ein wenig fettige aber glatte, die vom Malmittel herrühren, teils körnige, die eher auf Pigmentrückstände schließen lassen, teilweise aber auch Verdickungen, worin der Malprozess seine Spuren hinterlassen hat, etwa in Übermalungen und verschiedenen Schichten des Auftrages. „Und diese dicke Linie da“, fragt der tastende Autor. „Das ist der Rest eines Handlösungsversuchs“, so die Künstlerin.

Tastbar die Vergangenheit der Figur, was unter Farbe verschwinden soll, die Haut holt es hervor und bricht das Bild wie sein Denken darüber nochmal ganz anders auf: Was ertastbar ist, ist die Überdeckung, die Vergangenheit unter den Farbschichten. Was aber auch zu ertasten ist, ist ein Riss, den die Berührung des Bildes in die Imagination reißt, nachdem sie eine solche überhaupt zuvor hervorgerufen hat.

„Zwei Kreise. Kreise, nichts Plastisches. Einer um Kopf und Schultern, der andere um den Unterleib, dieser ist aber nicht geschlossen, er wirkt eher wie eine Spirale.“ Eine Spirale: das Wort und sein Schatten in uns. Ein Umkreisen der Körper, das seine eigene Bewegung in seinem Schatten beobachtet. Das Bild kann nicht „zu Ende“ gesehen werden, es kann beschrieben werden und findet in dieser Beschreibung, in seiner Erzählung oder Nacherzählung erst sein Ende, das aber eigentlich keines ist, da die Erzählung eine Unzahl von anderen Bildern eröffnet. Die Erzählung, die Beschreibung ist eine Übersetzung von Gesehenem in oder durch die Augen des anderen.

Die Berührung erstellt sich sein Bild als Schattenriss im Gehirn des Berührenden, der das Berührte als Zeit zu Form oder Figur zusammenspürt. Das Gesamt dieses Gespürten ergibt sich dem inneren Bild als eben dieser Schattenriss, der in den inneren Bildern eine Ausschließlichkeit zu einem Bild sich ersieht.

Da sind die Posen, die, eine jede für sich, Zeichenstrukturen aufrufen, die in Sprachfiguren gelesen werden können, die der Erblindete aus den Bildern herauszuhören hat, genauer aus ihren Beschreibungen. In der Beschreibung wiederum wechselt die Materialität, widerspricht das Gehörte dem Ertasteten, dem Spürbaren, gewinnt das Tasten eine andere Art der Erzählung hinzu. Die Lesbarkeit der Welt als nunmehr taktile Erfahrung, die ihre Taktilität in der ertasteten Bilderfahrung eines Erblindeten erfährt, dem Nachtasten der inneren Bilder des Bildlosen, des Blinden, das aber einst Gesehen worden war; ein Reservoir von Bildern, deren Vielfalt in ihrer Kombination besteht, da zu diesem Reservoir der Erblindeten natürlich keine weiteren Bilder mehr hinzukommen, ab einem gewissen Punkt keine weiteren Bilder hinzugekommen waren.

Die Präzision solcher imaginärer Tastvorgänge hängt einerseits freilich von der Genauigkeit der Beschreibungen ab, andererseits von der Wachsamkeit der Imagination selbst und ihrem Dialog mit den Sehenden. Die Struktur des Gemäldes lässt dem Nachtasten mit den Fingern nicht die Möglichkeit, sichtbare Konturen nachzuzeichnen, Figuren an ihrer gemalten Materialität zu erkennen. Sie überlässt sich aber vielleicht der Haut, um eine ganz andere Oberflächenstruktur erfassen zu können, sie vielleicht eine dem eigentlichen Gemälde entgegengesetzte Struktur aufzubauen.

Ein jeder Sinneseindruck bringt Bilder durch die Einbildungskraft hervor, ihre Imago verbindet sie zu inneren Bildern, die für die Erblindeten im Gespür nachtastbar sind, die rau sind, weich, ölig, fett, spitz oder scharf, auch wenn sie das in der realen Tastbarkeit gar nicht sein mögen, auch wenn sie von der Gemäldeoberfläche nur gleichsam inspiriert sind. Nichts desto weniger stellen sie eine Realität dar, die nicht weniger wirklich ist als das vermeintlich Ertastete.

Die Einbildungskraft so schulen, dass die Beschreibung des Erblindeten, seine Imagination eine Notwendigkeit für die Sehenden und ihren Blick wird. Oder wie es Dietmar Kamper in seiner Soziologie der Einbildungskraft als Frage stellte: „Wie kommt man über die Moderne hinaus und vor den Mythos zurück?“

Die Lesbarkeit, die im Lesen eines Textes in Zeit sich als Verständnis erfüllt. Dem gegenüber geht das Lesen eines Bildes für einen Erblindeten zweierlei Lesungen nach, dem gesehenen und beschriebenen Bild, sowie dem im Inneren sich abzeichnenden Bild, das eine weitere Lesart dessen, was sich vom Gesehenen hatte einschreiben lassen „sieht“, um es mit der visuellen Realität im Austausch mit den Sehenden als gemeinsames Bild entwickeln zu lassen, das der Erblindete sich in der Beschreibung erwirken lassen muss, das in ihm, in seinem Inneren wiederum Bilder hervorruft, die mit dem von Sehenden Gesehenen kommunizieren.

Wenn das Bild nicht vom Auge gesehen wird, sondern vom Gehirn konstruiert wird, wenn es zum Sehen das Sprechen benötigt, geht dem Bild die Einbildungskraft voraus, ist der Sehende dem Blinden in seinem Sehen viel näher als die Sehenden sich eingestehen möchten. Sein Bild entspringt der Blindheit, in der er mittels seiner Einbildungskraft zuerst herumstochert.

Bilder-Sehen heißt für einen Erblindeten, sie von mehreren Sehenden sehen lassen, um die Seherfahrungen des Erblindeten damit anzureichern und umgekehrt das Sehen der Sehenden anzuregen, die aus dem inneren Fundus der Sinne des Erblindeten ihre eigenen Bilder im Spüren erweitert bekommen.