Das Erhören des Bildes

Zur Malerei von Simone Kill (Teil 3)

„Ich habe einen geeigneten Ansatz gesucht, um meine Figuren weiterzuentwickeln. Vorlagen sollten her, um deren Flächen zu studieren. Vorlagen, weil ich das intuitive Figurenfinden bewusst einschränken wollte, um in der Form weiterzukommen. Ich wollte mich immer wieder auf eine bestimmte Position der Figur, ihre Haltung, ihren Ausdruck beziehen, um formal ihre Möglichkeiten zu untersuchen“, so die Malerin Simone Kill in einem Gespräch mit dem Autor dieses Buches und seiner Assistentin.

Ein Bild des Tizian: La sacra conversazione Balbi /Die heilige Unterredung Balbi. Tizian bildet darin etwas ab, das im Eigentlichen nicht abbildbar ist, ein Gespräch, das keiner Stimmen bedarf, das vielleicht als innerer Monolog stattfindet, vielleicht als Gebet, in jedem Fall aber eigentlich ohne Gesprächspartner. Bei Tizian aber gibt es diese Gesprächspartner: um die Mutter Gottes, mit dem nackten Gottessohn auf ihrem Bein stehend, herum versammelt, stellen sie drei Positionen oder Haltungen dar, in welchen der Mensch mit dem Göttlichen ins Gespräch zu treten sich anschickt: stehend, sitzend, kniend. Auserwählt hierfür ein Heiliger und eine Märtyrerin, die heilige Katherina, die neben Maria sitzt, der heilige Domenico als Ordensgründer stehend, und der Stifter des Bildes, der sich kniend, anbetend vom Maler in die Reihe der Heiligen stellen lässt. Ein Gespräch, das Gesprächspartner zwar als anwesend zeigt, keiner und keine von ihnen aber spricht, alle haben die Augen auf die Gottesmutter gerichtet.

Simone Kill wiederum übernimmt nur die Haltung der Madonna mit ihrem leicht nach oben gezogenen linken und leicht nach vorne geschobenen rechten Bein, nimmt sie aus der ganzen Gesprächsszene heraus, lässt sie auch ohne den Christusknaben sitzen. Das einzige, das von seiner Anwesenheit übriggeblieben ist, ist die Haltung des rechten Beines der Mutter, das diese leicht nach nach vorne schiebt, um den Stand des Kindes zu ermöglichen. Daneben übernimmt die Malerin nur noch die Haltung des Kopfes von Tizians Original: zu ihrer linken Seite geneigt blickt sie nach links unten.

Ein berühmtes Bild der Kunstgeschichte wird hier wie gegen sich selbst gemalt, als wende sich das Symbol gegen das Symbolhafte, entkleidete es sich unter seiner eigenen Verspiegelung, wie das Mädchen vor dem Spiegel in *Rendezvous zum fröhlichenTod sich entkleidet und seine Kleidung von seinem eigenen *Spiegelbild angezogen wird.

Von einer anderen Richtung her kommen die Bilder des Erblindeten den beschriebenen Bildern wieder entgegen, in denen zwei Frauen dem Blinden mit ihren Bildbeschreibungen das Bild des Tizian wie die Bilder der Simone Kill näher zu bringen versuchen, und ihrerseits innere Bilder im Blinden hervorrufen. Das Gespräch mit den beiden Frauen mittels Digitalrecorder aufgenommen und immer wieder abgespielt, es immer wieder angehört. Das Bild Tizians als Grundierung sich im geistigen Auge verankert: diese grundierende Schicht der imaginierten Bilder, die von den Beschreibungen der Frauen hervorgerufen wurde, überblenden lassen, so ähnlich wie der Blinde in seiner Erinnerung filmische Überblendungen, damals noch sehend, erfahren hatte. Hier nun legen sich Bilder der Simone Kill auf das Gemälde des Tizian, lässt die Imagination des Blinden Bilder sich übereinanderlegen, lässt Farben und Formen auseinander sich hervorschieben. Bilder, die gegen andere Bilder sich durchsetzen, wobei sie immer etwas von dem, wo heraus sie sich entfalten, mit sich führen, bis die Unruhe, in der sie in seiner Einbildungskraft entstehen, sich legt, sie wie Videostills einfach bleiben, sich ruhig betrachten lassend.

Zuallererst ist es ein Dramenfragment des jungen Hugo von Hofmannsthal, Der Tod des Tizian, das da erscheint und Breschen in die Bilderverwachsungen des Blinden schlagen will. In einer Szene des Sterbens des Malers Tizian haben sich eine Reihe seiner Anhänger, Schüler, Jünger im Garten der Villa des Meisters versammelt, um vom Schaffen des Malers zu schwärmen, über es zu philosophieren, als die Modelle des Malers aus dessen Atelier treten und zu ihnen stoßen, nicht nur, um von Tizians Gesundheitszustand zu berichten, um vor allem von der Rolle zu sprechen, in die sie im letzten Bild des Tizian als dessen Modelle schlüpfen sollten, die sie für den Maler auszufüllen hatten, selber ein Teil dieses Werkes in seinem letzten Bild werdend. Die Spannung, die sich hier entwickelt, ist die zwischen der Reflektion der Kunstbetrachtung und der Bild werdenden Schönheit des Modells, verkörpert von den Mädchen, zu denen auch Lavinia, die Tochter des Tizian gehört, die beim Tod des Malers bereits fast zwanzig Jahre Tod war, gestorben bei der Geburt ihres Kindes, wie ihre Mutter ebenso bei ihrer Geburt gestorben war. Zu Beginn des Stückes lässt Hofmannsthal Desiderio sagen: „Der Tizian sterben, der das Leben schafft! / Wer hätte dann noch zum Leben Recht und Kraft?“

Das gebrochene Symbol

Ganz im Sinne des Symbolismus wird der Künstler zum eigentlichen Schöpfer, der den göttlichen Schöpfungsakt der sieben Tage noch beleben muss, um daraus Leben und Welt und Mensch tatsächlich erstehen zu lassen, der das Geschaffene erst noch ins eigentliche Leben hinüberführen muss, ähnlich dem göttlichen Odem, der dem Material Leben überhaupt erst einhaucht. Wie ein jedes der Mädchen ganz aus der Rolle der antiken Figur spricht, die es vor der Leinwand für den Maler einzunehmen hat, sprechen die jungen Schüler der Welt außerhalb des Gartens und der Villa alle Lebendigkeit ab. Entfernt erinnert diese kleine Gemeinschaft an die derer, die sich einst im Garten des Epikur versammelt hatten, werden die Phantasien über die Antike von Menschen aus Fleisch und Blut tatsächlich verkörpert, beginnen die Mädchen im Versmaß sich und das Leben der dargestellten Figur nach der Sitzung vor der Staffelei in Sprache und Bewegung auszufüllen. Hofmannsthal stellt Welt als etwas dar, das erst in der künstlerischen Verarbeitung zu Wirklichkeit gelangt. In dieser symbolistischen Weltsicht ist das Kunstwerk das eigentlich Reale, ein Realismus wäre die unwirklichste aller Welten. Alle Welterscheinung wiederum steht für etwas anderes, das schöpferisch überhaupt erst erstellt werden muss. Gottes Schöpfung gibt nur, blasphemisch gesprochen, das Material ab für die eigentliche, die künstlerische Schöpfung.

Simone Kill wiederum entzieht dem Bild diesen symbolistischen Glanz und lässt Welt in ihre ursprüngliche Unruhe zurückfallen, das Rauschen, das aller Benennung vorweg geht, eine Art akustischem Chaos, das im gemalten Bild seinen Ausdruck finden will. Das „Wort ward“ eben nicht „Fleisch“ und was „unter uns wohnte“ war nur die Unruhe. Die Unruhe, die entsteht, wenn das Zeichen seine Deutbarkeit verliert, der Moment, wo das Symbol sein Koordinatenkreuz nicht mehr wiederzufinden vermag.

Was Hofmannsthal hier freilich auch aufgreift ist die Wirklichkeitsnähe, die Plastizität, die den Figuren des Tizian geradezu sprichwörtlich nachgesagt wird. In solcherart Wirklichkeitsnähe lässt er in seiner La sacra conversazione Balbi in einer nur auf den ersten Blick naturalistischen Szenerie auftreten, einem Gespräch, in welchem keiner der Anwesenden auch nur ein Wort zu sprechen scheint.

Tizian hat dabei das ganze Bild als Symbol aufgebaut, als Darstellung des inneren Vorganges des Gebetes und seiner Komponenten, in deren Vollständigkeit dem Gebet einzig Gelingen versprochen ist: im Zentrum das Heilige, der Gottessohn gehalten von der Mutter als Sedis Sapientiae, um sie herum die Heiligen als Vermittler, derer der Betende, hier der Stifter des Bildes, bedarf. Dennoch ist keine Anbetung dargestellt, eher ein innerer, geistiger Vorgang, der vielleicht als Rechtfertigung für die katholische Heiligenverehrung gesehen werden kann, die das Bild in seiner Innerlichkeit in Abgrenzung zum heidnischen Götzendienst darstellen will; ein Anwesendes sich beziehen auf das unsichtbar Geistige, ein Schauen, ein demütiges Innehalten, etwas, das im Erschauen erfassen soll, ohne dass das, was da eigentlich erfasst, dargestellt wäre, oder dargestellt werden könnte.

Simone Kill nimmt bewusst von der symbolbeladenen Tizianischen Farbgebung abstand, vor allem vom Tizianrot, in das er den Mantel mit der Kapuze der Madonna getaucht hat. „Die Haare gehen in einem Schwung nach unten. Sie sind durchsichtig. Die braune Kugel unter ihr. Die Haare fließen auch vor ihrem Gesicht herunter: nein, es sind nicht die Haare, die über das Gesicht fließen, sondern die Farbe der Haare. Der nach oben angewinkelte Arm wird auf diesem Bild von der anderen Hand gestützt. Sie sieht so aus, als würde sie auf die braune Kugel unter ihr herunterschauen, hat aber kein Gesicht“, so die Tochter des Autors im Gespräch mit ihm zu einem Bild von Simone Kill. Scheint aber trotz fehlender Augen, so interpretiert der Blinde das Beschriebene, einen Blick zu haben, der sich auf Gegenstände richtet. Woran sich das für die Sehenden ausmachen ließe, wäre, dass Teile des Kopfes, das rechte Ohr beispielsweise, erkennbar sind, erkennbar für die Ausrichtung des Kopfes, und der Kopf erscheint so in eine bestimmte Richtung hin ausgerichtet.

Simone Kill nun löst die Madonna aus dem Gespräch heraus, lässt von ihr nur eine Haltung übrig, die sie durch den Wegfall der anderen Figuren wie eine Spiegelung ihres Inneren erscheinen lässt. Das leicht nach oben gezogene Bein, das bei Tizian der Figur des Christuskindes Stabilität geben soll, erhält bei Simone Kill einerseits etwas Verspieltes, gibt ihr aber auch, wo es keinen Sinn für diese Beinhaltung gibt, eine Unruhe, als wolle die Frau gleich aufstehen, weil ihr etwas fehlt, was im Vergleich zur La sacra conversazione Balbi ja auch tatsächlich der Fall ist: es fehlt das Kind.

Es fehlt der Gottesmutter der Grund, der Gottessohn. Es fehlt ihr aber auch die Gemeinde, die Resonanz, der Raum, in welchem sie Gehör finden könnte. Was bleibt ist nur eine menschliche Frau, also das Gegenteil dessen, was Maria in der christlichen Theologie darzustellen hat: den Anfang der Zeitlosigkeit, die mit ihrem Sohn beginnt, den Anfang des Endes der Zeit überhaupt. Maria als der Gegenentwurf zu Eva, der Verführerin, mit der in der biblischen Überlieferung die Fleischlichkeit beginnt. Mit Maria wird dieser sinnliche Frauenentwurf aufgebrochen, kommt in ihr und durch sie einzig die Potenz Gottes zur Welt und zur Geltung, das Gegenstück der menschlichen Fruchtbarkeit, die Potenz der göttlichen Schöpfung, die keines fleischlichen Aktes bedarf, um sich fortzupflanzen, die sich stattdessen überallhin verströmen will.

Indem in Simone Kills Bild aber einzig die Maria ohne allen Bildkontext zurückbleibt, lässt die Malerin eine Frau zurück, deren Grund und Zukunft allein in ihr liegt, im Irdischen, dessen Transzendenz die Überwindung ihrer Existenz, ihre Entwicklung und Fortentwicklung ihr nur aus ihr selbst heraus gelingen kann, zurückgeworfen einzig auf das Irdische. Im Abzug der Gesprächspartner dieses wortlosen Gespräches, das auch wie ein Tableau von gegenseitigen Projektionen gesehen werden könnte, wird die Madonna noch mehr auf sich und in sich zurückgeworfen, ist andererseits in einer Unruhe, da der Stand des Kindes entleert ist, die Unruhe einerseits als eine mütterliche begriffen werden könnte, allerdings auch als eine geistige Unruhe, weil der Frauenfigur der Grund ihres Seins im vormodernen Frauenbild entzogen ist, daher in diesem patriarchalen Sinn der Sinn überhaupt fehlt. Gerade aber dies Fehlen erwirkt in der Unruhe der Figur eine ganz andere Art der Transzendenz, eine irdische Transzendenz, eine existenzielle anstatt einer göttlich-geistigen. Hatte Simone Kill sich zuvor zur malerischen Aufgabe gesetzt, eine Figur in Schalen und Linien zu sich kommen zu lassen, um als solches Geschäl sie wieder zum Verschwinden zu bringen, scheint sie mit den Tizian-inspirierten Figuren an die Grenze der Figur mittels dieser Figur selbst gehen zu wollen.

Die Bewegung wiederum, zentrales Moment der Ursula-Bilder, wird in den Tizian Bildern in die Figuren zurückgenommen, wirkt eher potentiell und dabei eher akustisch als optisch: der zu sehende Faltenwurf ist die Ankündigung des Gerausches von Stoff, das sich in dem Moment entfalten wird, wo, ausgelöst durch eine Bewegung, der Stoff, das Kleid von der Schwerkraft wieder entfaltet wird. Von daher ist der Faltenwurf eine optische Ankündigung eines akustischen Geschehens, das sich in absehbarer Zeit vollziehen wird. Die Bewegung wird als zu erwartende sichtbar, und sie wird zu allererst zu hören sein.

Während in Tizians Gemälde eine Art innere Versenkung dargestellt ist, die der Figuren um Maria herum nur bedarf, um in dem so darstellbaren Schweigen die Konzentration ins Innere darstellbar machen zu können, löst Simone Kills Herauslösung der Maria aus dem phantasmagorischen Gesprächskontext eine entgegengesetzte Bewegung aus, eine schier hörbare Ankündigung von Bewegung nach Außen, eine Art Extrovertiertheit, der die, freilich nur gemalte Hörbarkeit von Bewegung, dem scheinbar bevorstehenden Aufstehen der Gottesmutter, vorauszugehen scheint. Losgelöst vom Kontext, ja geradezu befreit von ihm, geht bei Simone Kill die Bewegung aus sich selbst heraus, löst sich von ihr und reißt die dargestellte Figur mit sich. Die Bewegung scheint so der Figur zuvor zu kommen, die befreit von ihrem Bild, über das Akustische hinüberschwingt in eine Neudeutung des Inhalts, der in einen anderen Inhalt hinein befreiten Figur. Im Zentrum der Figur liegt der Faltenwurf des Rockes, der laut Beschreibung der Assistentin, am genauesten von der Malerin ins Plastische herausgearbeitet ist.

Simone Kill spielt mit dem Original. Sie macht den eigentlich inneren Monolog spürbar zu einem sichtbaren, sprich zu einem nach außen gerichteten Gespräch. In der Sichtbarkeit stellt sie zugleich die Nichtdarstellbarkeit des inneren Monologes dar, stellt dar, wie solche Sichtbarkeit nur in mehreren Gestalten darstellbar wird, die in ihrer Anwesenheit eine Gesprächssituation verkörpern, die aber dennoch nicht stattfindet, da niemand spricht. Erst durch den Abzug des Christuskindes gerät etwas in Bewegung, was im Original eigentlich den ruhenden Pol des Bildes in seinem Zentrum darstellte, oder darstellen sollte. Allen Nimbus des Heiligen entkleidet, bleibt eine zu tiefst irdische Frau zurück, deren Unruhe auch als Beginn ihres Aufstehens, des Verlassens der Szenerie gedeutet werden könnte, als Beginn ihres Weges hinaus ins Irdische.

Freilich müssen die Figuren, die Simone Kill in ihrer Bearbeitung des Tizianbildes ausklammert, erkannt und verstanden werden, da ihre Geschichte nicht nur in die Bilderzählung hereingreift, da ihre Geschichte dem Gespräch ja auch eine ganz spezielle Note verleiht. Nicht zufällig postiert der Maler Katharina zur einen Seite der Gottesmutter, zur anderen aber Domenico. Einerseits eine Heilige, die sowohl durch ihre Gelehrsamkeit wie ihr Selbstbewusstsein Berühmtheit erlangte, die sie aber auch mit extremer Grausamkeit seitens der Macht gegen sie zu bezahlen hatte. Domenico wiederum steht als Ordensgründer für den Prediger in Zeiten der Albigenser Kreuzzüge, der an den Katharern deren Belesenheit genauso schätzte wie ihren Hang zur Askese, der eine arme Kirche predigte und dies als die einzige Chance sah, der Insurrektion der Armen gegen die verschwenderische Obrigkeit in gelebter Armut entgegen zu treten. Letztlich könnte man seine Ordensgründung in moderner Terminologie als Aufstandsbekämpfung sehen, als Kanalisierung des Umsturzes gegen sich selbst in Gestalt der Askese.

Das Rauschen der Falte

Was die Mutter Gottes mit ihrem Gotteskind um sich an Menschen sammelt, sind Heilige, die von ihrer Hagiographie als Gelehrte, als Vertreter und Vertreterin einer Armut ausgewiesen sind, die durch ihre Unbeugsamkeit, ihre Konsequenz im Glauben sich die Heiligsprechung erwarben und diesen Lohn teils, wie Katharina, mit dem Tod zu bezahlen hatten, der grausam an ihr vollstreckt wurde, weil sie sich der Männermacht der Herrschenden verweigert hatte.

In einer anderen Darstellung der Katharina, einem Gemälde des Hans Memling, wird ihr vom Christuskind, das auf dem Schoß der Maria sitzt, ein Ring als Zeichen der jungfräulichen Vermählung mit Christus an den Finger gesteckt. Diesen ganzen Szenerien und deren Geschichten, die in dem Bild des Tizian immer mitschwingen, entzieht Simone Kill ihre Mariendarstellung, indem sie sie ohne allen Kontext, reduziert einzig auf ihre Haltung, im Faltenwurf ihres Rockes schlichtweg „sitzen lässt“. Dadurch aber erfahren die Falten des Kleides eine Verstärkung der akustischen Qualität im Optischen, die die Bewegung ankündigen, die im Sichtbaren eine Unruhe in sich tragen, das ankündigt, dass etwas geschehen würde, etwas geschehen müsse, das die Unruhe erst wieder beruhigen könne. Die abgebildeten Falten nehmen das Rauschen des Kleides optisch vorweg, künden die Bewegung an, die im Akustischen auch erst wieder zur Ruhe kommen wird, dann nämlich, wenn das Kleid in seinen Falten ruhig fällt oder liegt, zum idealen Ausdruck des Bildes geworden ist.

Die Falte als das „Echo des Körpers“, wie es Winkelmann ausdrückte, die Sichtbarkeit des Akustischen und die Hörbarkeit des Schritts im Gerausch der Schreitenden in ihren Gewanden. In der Falte wird etwas hörbar, was als Bewegung in gewisser Weise vorweggenommen ist, was die Bewegung vorwegnimmt. Das Echo geht der Figur akustisch gleichsam voraus.

La sacra conversazione Balbi, die in der Figur der Maria und dem Gottessohn Eigenschaften wie Lebensläufe in persona versammelt, letztlich wie die gestaltgewordenen Antworten auf Fragen der Lebensführung, die unter dem Blick des Heiligen Bestand finden sollen, werden unter der Anwesenheit des Stifters zum Zwiegespräch, das innere Fragen und Zweifel unausgesprochen einer Antwort zuführt: ohne dass auch nur ein Wort fallen müsste, werden gleichsam Exempla an Leben vorgestellt, die so in jedem Fall, und auf eine jede, wie auch immer konkret gestellte Frage, geheiligte Antworten verkörpern.

Wenn also Simone Kill einzig die Madonna in ihrer in der Kunstgeschichte bekannten Position aus dem gesamten Bildkontext herauslöst, stellt sie sich nicht gegen mögliche Fragen und Antworten einer christlichen Lebensführung, sie löst aber alle möglichen Gespräche in etwas auf, führt sie auf das zurück, was an der Schwelle zwischen Theologie-Liturgie auf der einen Seite und Ästhetik, in ihrer ursprünglichen doppelten Bedeutung von einfacher Wahrnehmung und dem Wissen vom Schönen, auf der anderen Seite sich befinden könnte.

Aber gehen wir doch dem Bild nach. Genauer: ein Blinder versucht dem Bild nachzugehen, indem er den Imaginationen nachgeht, die das gesprochene Wort der Beschreibung in ihm auslöst. Gehen wir den verschiedenen Wahrnehmungsregistern nach, die das, von dem da gesprochen wird, in ihm aufruft, in ihm auslöst.

Das erste, was wir hören, ist das Rauschen eines Rockes, ist das, was als Faltenwurf bezeichnet wird, natürlich nicht, was das Bild als solches bezeichnen lässt. Das, was diesen Vorgang wörtlich nimmt, ist das Heben und Fallen von Stoff, eine Bewegung also, die das Bild ja gerade zum Stillstand bringt: da fällt nichts, da hebt sich nichts, da sitzt eine Frau in einer gewissen Position und dementsprechend positioniert ist ihr Rock. Wörtlich genommen, vom Blick des Betrachters aus, von dem aus, der beschreibt, bleibt es eine Bewegung, die die Bewegung der Bewegung zurückgibt, die über das stillstellende Bild hinausgeht, es wieder der Bewegung zuführt. Diese Bewegung aber hat noch gar nicht Statt gefunden, von daher hat das stillstellende Bild ja auch seine Berechtigung. Und doch: hat es seine Berechtigung nicht gerade daher, dass es von Dingen spricht, die es der Sprache voraus hat? .

Indem der Schenkel wie zum Aufstehen angehoben, zugleich der Faltenwurf die Bewegung akustisch ankündigt, wird das Moment des Bildes, das bei Tizian die feste Ruhe darstellte zu dem, was alles in Unbeständigkeit, in Unruhe stürzt. Nachdem aber auch die Figur selbst eher im Verschwinden begriffen und von ihr einzig das übrig ist, was als Echo eher von ihr übrig bleiben würde, der Rock, die Falten, erweckt das Bild den Eindruck, als zöge es sich in sich zurück und hinterlasse einzig akustische Spuren, deren Flüchtigkeit eine Erinnerung ans Figürliche überhaupt zurücklässt, bevor auch das ins Unkörperliche hinein verschwindet. Nichts ist mehr, und dass überhaupt etwas zu sehen ist, bezeugt nur, dass etwas einmal da war, anwesend nur in Spuren, die selbst auch noch im Verschwinden begriffen. Das Bild stellt ein lediglich akustisches Echo des Figürlichen dar. Gerade in dieser Heiligen Unterredung, die keinerlei ausgesprochener Worte bedarf, um etwas wie innige Sinnlichkeit auszudrücken, wird eine akustische Bewegung sichtbar, und das heißt für den Blinden hörbar, eine Hörbarkeit, die sich in Simone Kills Bearbeitung ausdrückt. Eine Bewegung wird auch dadurch sichtbar im Vergleich zu Tizian, wird hörbar für den Blinden gerade durch das Fehlen der anderen Figuren und der Kommunikation, das Gespräch, das ihr Fehlen mit dem Titel führt: das Gespräch, bei dem niemand spricht wird tosend laut.

Simone Kill bringt in ihrer Bearbeitung, in ihrer Reduktion auf die Haltung der Gottesmutter eine Verlagerung vom Visuellen hin zum Akustischen hervor, verlegt Bewegung dabei in die akustische Spur dieser Bewegung, in echohaftes Rauschen, in eine Flüchtigkeit, die Bewegung am Rande der Bewegung darstellt, nahe ihrem Verschwinden.

Dann aber ein anderes Bild, in welchem der Tochter des Autors die dargestellte Madonna wie eine Windsbraut vorkommt, freilich keine dargestellte Braut der Lüfte, wie bei Kokoschka, eher eine Frau aus Luft, das Gegenstück einer Frau aus Fleisch und Blut also.

Worte, die sich aus Fragmenten zu Erzählungen bildhafter Geschehnisse entfalten: „Ihr rechter Arm angewinkelt und dabei nach oben. Im Oberkörper eine Wolke, die von ihr aus nach links außen schwebt. Ein Kopf ohne Gesicht, dafür mit Schleier. Die Rückseite des Rockes liegt auf dem Boden. Der Rock ist weiß, zwei große Falten vom angewinkelten Knie aus. Die Farben im Allgemeinen einfach heruntergeflossen, sie wurden nicht verstrichen. Der weiße Rock geht vor, fast bis zu den Zehen. Auf dem Schoss, auf dem Rock ein rotes Tuch. Über dem Oberkörper ein weißblaues Gewand mit Löchern für die Arme, die Schultern frei. Der Kopf zu ihrer linken geneigt, sie blickt nach links unten. Die Fläche des nichtvorhandenen Gesichts grau-ocker, sandfarben. Drumherum Reste olivgrüner Farbe, die verschwommen ins Gesicht hereingeflossen kommt. Über dem Kopf ein blauer Schleier. Sie neigt den Kopf so, dass ihr rechtes Ohr zu sehen ist. In der großen Falte am angewinkelten Knie ist auch die Farbe Gelb zu sehen, die hinten auch zu Boden fließt. Der Boden ist braun-grün und am Fuß meint man Grasbüschel zu sehen. Ansonsten ragt der Fuß ins Nichts, das außerhalb der Figur, hier des Fußes, weiß-hellblau ausgelassen ist. An ihrer linken Seite ist eine karoförmige Fläche in Blau, darunter eine kleinere grüne Fläche in Karoform. Darüber die hellblaue Wolke, leicht türkis. Am ehesten ist das Tuch auf ihrem Schoss ausgearbeitet, sprich ins Plastische gebracht, dieses Tuch und der Rock. Rock wie Tuch wirken am lebendigsten, wirken als einzige lebendig, im Gegensatz dazu der Oberkörper, der entrückt erscheint, auch nach hinten geschoben. Auch die Hand, das sind einfach nur fünf Striche, jeder Finger einfach ein Strich. Nur die Hand, die nach oben geht, ist zu sehen“, so die Beschreibung der Bilder der Simone Kill nach den digitalen Photographien durch die Tochter des Autors. „Der Rock ist oder wirkt durchsichtig. Die Beine existieren nicht. Sie scheint ohne Beine über einer braunen Kugel zu schweben.“

Indem in Simone Kills Bild einzig die Maria zurückbleibt, lässt sie einzig eine Frau zurück, deren Grund und Zukunft allein in ihr liegt, im Irdischen, dessen Transzendenz, die Überwindung ihrer Existenz, nur aus ihr selbst heraus geschehen kann. Die Figur wird ihrer eventuellen Symbolwerdung entzogen, und noch bevor dergleichen geschehen könnte, stellt die Malerin das Werden der Figur dar, zerteilt die Figur in Oberkörper und Unterleib. Einzig im Faltenwurf aber sucht sie die Konstruktion des Figürlichen zu erhalten, kommt dabei auf ihre genealogischen Mittel der Fläche und der Linie zurück. Nimmt man Winkelmanns Formulierung vom Faltenwurf als dem „Echo des Körpers“, könnte Simone Kills Bearbeitung von Tizians Gespräch als Verlagerung des Visuellen der Figur in deren akustische Erscheinung verstanden werden, zumal nur der Faltenwurf plastisch ausgearbeitet ist, das Gesicht der Madonna gar nicht ausgearbeitet und Hand und Oberkörper nur konturiert wie zurückgelassen erscheinen. Durchsichtig gemalt verbirgt der Rock zudem keine Beine und keinen Unterleib, die schlichtweg nicht vorhanden sind. Nichts davon ist bekleidet, da das zu Bekleidende gar nicht existiert. Gäbe es das Vorbild nicht, müsste man diese Erscheinung einer Figur als Attrappe verstehen, etwas, das in seiner Menschlichkeit überhaupt erst noch seine Ganzheit oder seine Vollständigkeit sich auf die eine oder andere Weise zu erlangen hätte. Keine Figur scheint da dargestellt, eher die Wirkungen, die von einer solchen Figur ausgehen mögen. Bewegung wird von der Darstellung der Bewegung, der dargestellten Bewegung zu einer inneren Bewegung der Figur, zu einer Bewegung, die eigentlich vom Hören ausgeht, von der Bewegung des Faltenwurfes als „Echo des Körpers“ im wahrsten Sinne des Wortes. Ganz nahe an der blinden Wahrnehmung, kommen in Simone Kills Bildern die Figuren zuallererst visuell in ihren nichtvisuellen Eigenschaften daher, sind sie, ohne dass sie erkannt werden könnten, zuerst zu hören, ja zu spüren, bevor ihnen das Wort ihren Zugang in die vermeintliche Ganzheit ihrer visuellen Wirklichkeit eröffnet.

Von hier aus wirft die Bearbeitung des Tizianbildes durch Simone Kill nochmal einen ganz anderen Blick auf die Überlegungen zum Symbolismus, die wir zu Beginn des Textes angestellt hatten. Das Kunstwerk erscheint hier in seiner Durchsichtigkeit, in seinem Rückzug aus dem Wirklichen geradezu als Gegenentwurf zum Anspruch der Symbolisten, die Welt erst hervorbringen zu wollen: Es erscheint als Modus, in welchem die Welt zu verschwinden beginnt, als Möglichkeit für die allzu klar konturierte Wirklichkeit sich zurückzuziehen, um in ihrem Inneren Bewegungen aufzuzeigen, in deren Gerausch nochmal und ganz anders über Wirklichkeit nachzudenken wäre.