Faith Healing © Deutsches Historisches Museum/Karsten Hein

Die Rückkehr der Bewegung ins Bild

Arbeiten des Fotografen Karsten Hein bei der Ausstellung Der Luthereffekt im Martin Gropiusbau

Im Rahmen der Ausstellung Der Luthereffekt arbeitete der Fotograf Karsten Hein mehrere Wochen für das DHM in Tansania, um die Lebendigkeit protestantischer Gläubigkeit in der zweitgrößten evangelisch-lutherischen Kirche der Welt zu dokumentieren. In mehreren Serien von Fotografien stellt sich eine Gläubigkeit dar, die der Praxis hiesigen Protestantismus auf den ersten Blick fern zu sein scheint. Trägt die tansanische Glaubenspraxis doch vor allem Züge evangelikaler Erweckungs- oder Pfingstkirchen, wie sie jedoch auch in Europa mehr und mehr um sich greifen und das auch in Deutschland.

Die aktuelle Religionspraxis soll uns in diesem Text allerdings nicht interessieren. Unser Augenmerk gilt hier vor allem den Fotos des Fotografen selbst, der Art seiner Darstellung von Bewegung, von Aufkommen von spontanen Massenzusammenkünften und ihrer Dokumentation im Bild, wie sie sich aus der Sicht eines Blinden darstellt.

Zeit und Werden im Bild

In einer Serie dokumentiert Karsten Hein einen Tag mit einer Straßenpredigerin in Daressalam, in einer anderen den Alltag eines gläubigen Schusters und seiner Familie, der, neben seiner Arbeit als Handwerker und Bauer auch noch einen Posaunenchor leitet und täglich stundenlang zwischen all diesen Tätigkeiten hin- und herpendelt. Dann aber beschreibt Karsten Hein mit seiner Kamera auch in Moshi am Kilimandscharo das Ritual des Exorzismus und seine Verwurzelung im Protestantismus in Tansania.

All dies hat der blinde Autor als Teil einer Arbeitsgruppe im April diesen Jahres für eine Sendung des Ohrfunk bereits in Interviews mit BesucherInnen, KuratorInnen und vor allem dem Fotografen Karsten Hein beschrieben, an der ganz zentral aber auch die Assistentin des blinden Autors, Heidi Prenner, beteiligt war, einer Sendung, die auf der Seite des Ohrfunks auch nachzuhören ist (http://www.ohrfunk.de/der-luther-effekt).

Was uns an dieser Stelle nun hauptsächlich beschäftigen soll, ist der Versuch eines Blinden sich nochmals mit den Serien der Fotografien des Karsten Hein konfrontieren zu lassen, um den Eindrücken nachzuspüren, die ihn und seine Assistentin überkamen, als sie zum ersten Mal den Bildern gegenüberstanden.

Was, und dies als erste Frage die aufkommt, ist die Imagination einer Bewegung. Was geschieht, wenn ein blinder Betrachter mit seiner bildbeschreibenden Assistentin an einer Serie von Fotografien vorübergeht, die in der Beschreibung Bilder in seinem Geist erzeugt. Die Bewegung, die auf den Bildern der Serie unterbrochen dargestellt wird, wird quasi nach außen gelagert und vom blind zuhörenden Betrachter übernommen, wird im Geist nachvollzogen, wird verkörpert. Die Stillstellung der Bewegung in Bild und Hängung erfährt darin eine Bestätigung und zugleich Aufhebung: sie wird im Bild zu einem Moment komprimiert und diese Momente werden in der Serie zu einer von Sehenden beschreibbaren Bewegung wieder zusammengeführt.

Aber was ist diese Feststellung eigentlich oder genauer, was wird da festgestellt, stillgestellt. Eingefroren kann die körperliche Bewegung nur werden, weil der menschliche Geist solcherart Einfrierung übergehen kann. In der Fotografie trennt sich die reale Bewegung, die sich in einem ihrer Momente darstellen lässt, nicht nur von der eigentlichen Bewegung, die der menschliche Geist von ihr imaginiert. Die Fotografie selbst ist auch der Bruch, der das Materiale vom Imaginären sich scheiden lässt.

Was ist demgegenüber eine gespürte Bewegung, etwa auch die Bewegung des Betrachters in einem Museum, der an einer fotografischen Serie vorrübergeht und sei es die Bewegung des Blinden, der mit seiner Assistentin diesen Gang vollführt, um sich von ihr die Bilder dabei beschreiben zu lassen.

Was, und ganz grundsätzlich, ist die Bewegung aus blinder Sicht? Gehen wir von der Bewegung des Blinden aus, die von ihm in Gestalt seines Körpers mitverursacht ist, der Bewegung seines Körpers selbst, so fällt zunächst auf, dass kein externes visuelles Bild diese Bewegung zusammenfasst, überblendet oder formulieren wir es drastisch: unterbricht. Aus Sicht des Erblindeten gibt es keine Momente, an denen sich die Augen festhalten, an denen sie sich festhalten lassen, an denen der kontinuierliche Windstrom, die Kontinuität des Akustischen, des Olfaktorischen durch Erkennen einer bestimmten Gestalt, eines Wesens in seinem Strom dadurch unterbrochen wird, dass die Augen sich festhalten, um etwas außerhalb von ihnen festzuhalten, es stillzustellen. Selbst wenn den Ohren, der Nase, der Haut etwas auffällt, dem sie sich hinwenden wollen, sind es immer die Augen, die diese Richtung letztlich durchsetzen, die Wahrgenommenes als Objekte identifizieren. Dem Hören, dem Riechen, dem Spüren ist es übertragen Eigenschaften zum Objekt, zum Wesen, zum Gegenstand beizusteuern. Endgültig aber wird in unserer augenzentrierten Kultur der Sicht die Identifizierung überlassen. Alle Wahrnehmungen anderer Sinne nehmen Sehende erst gar nicht so ernst.

Liegt in der Stillstellung der Bewegung durch die Fotografie eine Ausscheidung der Zeit, erweckt die Haut, die Hand, der Finger die Zeit erneut im Tasten zum Leben, erlöst die tastende Hand die in der Skulptur versteinerte Zeit in Bewegung, lässt sie die Zeit über die taktile Betrachtung wieder zu sich kommen und taut das im Bild Eingefrorene wieder auf.

Ist nun das Bild des Wahrzunehmenden von den anderen Sinnen getrennt, eröffnet sich das Bild in seiner Beschreibung einen imaginären Bereich durch die Sprache, die in den Worten die Erfahrung verbürgte Entsprechung in unserem Verstand als Bild entsprechend aufruft. Die Fotografie einer Bewegung bringt im Gehirn des Erblindeten durch Beschreibung eine Empfindung hervor, die den Blinden diese Bewegung erleben lässt, die sie für ihn spürbar macht.

Das innere Bild des Blinden geht zunächst der Fotografie der Sehenden nach oder sucht von ihr auszugehen. Das Bild wird so zwar zunächst als Stillstellung von Bewegung empfunden, indem ein bewegter Vorgang im Auge der Sehenden die eingefrorene Bewegung nachzeichnet. Indem der Blinde aber aus der Beschreibung in der Zeit, in der diese sich vollzieht, erneut hineingestoßen wird in eine von der Beschreibenden verkörperten Zeit, erspürt er zugleich die Bewegung, die da in Bild und Wort wiederkehrende Bewegung, wird er selbst in seiner Wahrnehmung von Zeit in der Beschreibung zum Erspüren von Zeit und Bewegung nicht nur mitgerissen, er wird diese Zeit in seiner Imagination selbst.

In der Beschreibung des Bildes eröffnet sich dem Blinden nicht nur einfach die Fotografie, es eröffnet sich die Möglichkeit, das Bild in gewisser Weise aufzubrechen, es als sich erfüllende Zeit in der Beschreibung zu erleben, es körperlich zu imaginieren. In der Fotografie und ihrer Beschreibung lässt sich das Bild ganz anders denken, als es Sehende in ihrer einfrierenden Stillstellung der Bewegung geradezu körperlich durch ihre Augen wiederholt nachvollziehen.

Die Blinden zwingen die Sehenden dazu, ihre Augen ernst zu nehmen indem sie sie zur Versprachlichung des Gesehenen zwingen, als öffneten die blinden ein zweites Auge hinter den Augen der Sehenden, in welchem die Trennung von Wort und Bild aufgehoben ist.

Mit dieser Reflektion über das Bild nähern wir uns erneut dem inneren Bild der Blinden an, um in ihm selbst eine Bewegung zu erspüren, die von der Beschreibung ausgelöst wird, die von den Fragen der Blinden in Frage gestellt wird, die von hier aus nochmals eine ganz andere Bewegung auslöst, eine Bewegung zwischen dem inneren Bild der Blinden und der Sicht der Sehenden. Etwas aber taucht da auf, das der Imagination selbst Grenzen setzt, das die Imagination zerbricht, das die Unmöglichkeit der blinden Imagination aufweist. Aber vielleicht ist es nicht ihre Unmöglichkeit, vielleicht liegt hier ja gerade ihre Basis, ihr Ursprung.

Berührung und Einbildungskraft

Die Berührung der Blinden bringt Imaginationen hervor, die auf der anderen Seite gerade von der Berührung wieder zerbrochen werden. Einerseits erweckt die Berührung mittels Begriff die Illusion von Ganzheit, andererseits fragmentiert die Haut der Blinden den berührten Gegenstand, das berührte Wesen, das auf Größe und Form des berührenden Hautausschnitts reduziert wird.

Karsten Hein imitiert scheinbar einerseits die Bewegung, wie sie von der Filmkamera und ihrer Technik geleistet wird, zersetzt diese Bewegung andererseits in der Serie in eine Vielzahl fotografischer Momente, und repräsentiert dies noch obendrein in einer Hängung seiner Bilder, die der blinden Sicht der Dinge ganz ähnlich ist, oder vom blinden Autor dieser Zeilen so empfunden wird: er entlässt die Linearität der Serie, des Ablaufes, der zielgerichteten Bewegung und setzt an ihre Stelle den Cluster, die Wolke, die Cloud, das Aufeinmal. Mit den Mitteln der Fotografie hinterfragt der Fotograf die Zeit, holt in der Serie und ihrer Clusterhängung den Verlauf, der nur in Zeit darstellbar ist in das Medium der Stillstellung von Bewegung zurück, um beides in Frage zu stellen. Der menschliche Körper ist es, der hier in der Wahrnehmung und Beschreibung von Bildern wiederkehrt, der die Bewegung übernimmt, um sich selbst auch in dieser Bewegung in der Einbildungskraft zu verflüssigen. Im Cluster, der eine Unzahl von Anschlüssen ermöglicht, der aber vor allem die eine Linearität verunmöglicht, ist die Vielschichtigkeit verkörpert, die die horizontale und gleichzeitig vertikale Anschlussfähigkeit der Assoziationen des blinden Hörens der Bildbeschreibung nachempfindet.

Zeit gewinnt so eine Gestalt, die das herkömmliche Bild von Zeit aus der Bildlosigkeit der Blinden heraus in ein Bild empfundener Bewegung, empfundener Zeit verwandelt. Im Cluster, dieser Unbeschreibbarkeit des Bildes in seinem Plural, wird die einfache Entsprechung von Wort und Bild aufgebrochen, um im blinden Hören zu Empfindung zu werden, die einerseits nur Fragmente wahrnimmt, in der Überforderung der beschreibenden Assistentin aber die Verzweigungen des Blickes ahnen darf, die nicht mehr auf ein spezielles Bild fokussierbar ist, dessen Weitwinkel der Blinde als ein Stolpern, ein Sich-Widersprechen heraushört, ein Abbild des Denkens von Zeit, stillgestellt aber auf der Stelle, im Stand implodierend.

Karsten Hein lässt seine Bilder in zwei Gestalten von Zeit erscheinen, um sie im Intervall der Serien aufzubrechen. Da ist zunächst das Bild als Dokumentation von Bewegung, in der eine solche zu einem Moment zusammengezogen wird. Andererseits setzt er diese Momente erneut zu einer Bewegung zusammen, die er aber, wie in der Serie üblich durch gleichmäßige Intervalle skandiert. Im Cluster nun bringt er die linearen Bildanschlüsse wieder durcheinander, lässt diese Anschlüsse offen, um in der Imagination die diversesten Anschlüsse im Kopf der BetrachterInnen entstehen zu lassen.

In der fotografischen Serie hinterlässt die Bewegung zwischen dem Ende eines Bildes und dem darauffolgenden Bild einen Zwischenraum, der aus einem Kontext heraus, den die Abfolge selbst hervorbringt, diesen Kontext in einem jeden Moment in Frage stellt, um ihn wieder aus sich heraus bestätigt zu sehen, ihn imaginär wieder zu schließen. Der Kontext, der Verlauf der den vorherigen Bildern entnommen ist, der sprachlich erfasst ist, gibt die Matrix für die schließende Imagination, indem es ermöglicht, Veränderungen wahrzunehmen oder herauszustellen zu betonen. Einerseits erfährt so der Zusammenhang in einem jeden Bild seine Bestätigung, andererseits weist ein jedes Bild Nuancen seiner Veränderung und Veränderlichkeit auf: so erst wird die Serie zur Serie, erwächst ihr eine Linearität, die andere Bewegungen auszuschließen in der Lage ist. Im Cluster nun setzt die Hängung diese Gesetze des Zusammenhanges außer Kraft, eröffnet ganz andere Gesetzmäßigkeiten, ganz andere Linearitäten, ganz andere Zusammenhänge, die Zeit als etwas Verzweigtes darstellen, deren Zielgerichtetheit und ihr Denken in ihrer Darstellung aufbrechen oder vervielfachen.

Zeit wird so von ihrer Gerichtetheit entbunden, wird zu einem Geflecht, wird zu etwas, das vielleicht am ehesten mit dem Begriff des Rhizoms umschreibbar ist: Rhizom ein Begriff wie ihn der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychoanalytiker Félix Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus entwickelten. Ohne den Begriff zu definieren umkreisen die beiden Autoren ihn in einer Weise, die am ehesten in einigen Äußerungen zu Beginn ihres Buches wie eine Skizze aufscheint und am ehesten da, wo sie ihn mit dem Begriff der Mannigfaltigkeit in Beziehung bringen: „Wir haben den Antiödipus zu zweit geschrieben. Da jeder von uns mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge. Wir haben alles verwendet, was uns begegnete, das Nächstliegende und das Entfernteste“, und weiter unten schreiben sie von dieser hier umrissenen Mannigfaltigkeit: „Mannigfaltigkeiten sind rhizomatisch […]. Eine Mannigfaltigkeit hat weder Subjekt noch Objekt, sondern nur Bestimmungen, Größen Dimensionen, die nicht wachsen, ohne dass sie sich dabei verändert. […] Mannigfaltigkeiten werden durch das Außen definiert: durch die abstrakte Linie, […] mit deren Verlauf sie sich verändern, indem sie sich mit anderen verbinden.“

Der Autor versucht eine rhizomatische Herangehensweise an die Bilder von Karsten Hein und dies erspürt er als Blinder, der seine eigene innere Zeit immer zugleich in einer Unzahl von Tentakeln aufspüren lässt, immer auch an Orten, in die hinein ihn ein jeder seiner gelebten Momente stößt, um ihn dort versinken zu lassen, bevor etwas an dieser Zeit ihn dort wieder herausholt oder längere Zeit eben auch nicht. Seine inneren Bilder würde der blinde Autor der rhizomatischen Mannigfaltigkeit verpflichtet sehen, dem Sinnesgeflecht, das im Schreiben alle vereinzelten Sinneseindrücke überschwemmen lässt, um aus dieser Überfülle Gestalten erstehen zu lassen, die der Blinde noch am ehesten als „innere Bilder des Blinden“ bezeichnen würde. Keinem einzelnen Sinn sind sie in ihrer Mannigfaltigkeit zuzudenken, voll sind sie und eine jede Pore des blinden Körpers ausfüllend.

Evangelist Tina Collage Wand Blatt 12 © Deutsches Historisches Museum/Karsten Hein

Was am Sichtbaren sagbar ist

Das Sichtbare wird in der Beschreibung dem Sagbaren unterworfen, wehrt sich allerdings dadurch gegen eine solche Reduzierung indem es dem Sprechen als seinem Aussprechen widerspricht, indem es auf seine Unaussprechlichkeit beharrt. Der Dialog zwischen Blinden und Sehenden ist also der zwischen zu Sehendem und Auszusprechendem, dem zu Sehenden und dem Aussprechbaren, bei dem die Imagination des Blinden in seinen inneren Bildern immer größere Genauigkeit bei der Beschreibenden einfordert.

In diesem Dialog weist eines jeweils dem anderen seine Grenzen auf: das Sichtbare ist nicht erschöpfend sagbar, das Sagbare ist letztlich auch nicht in Gänze sichtbar zu machen. Das Entscheidende aber ist die Wiederholung des Bildes, das als Serienbild freilich ein anderes Bild anschließen lässt, im Moment der Unterbrechung die Beschreibung selbst unterbricht, die wiederholte Nachfrage nach der Beschreibung einfordert. Carsten Hein beschäftigt sich mit diesen beiden Unmöglichkeiten, treibt sie in seinen Serien an ihren Grenzen über sich hinaus.

Zentral für seine Fotografie sind die beiden Aspekte, die die blinde Wahrnehmung strukturell bestimmen: die Imagination und die Berührung.

Einerseits kann die Erfassung der Bilder nur als Dialog zwischen Blinden und Sehenden verstanden werden, als ein Nicht-Zu-Einem-Ende-Kommen des Bildes, das zu sich immer im Widerspruch steht: das innere Bild der Blinden als nicht zum Indikativ, zur Feststellung kommen können, nicht über den Status der Behauptung hinaus kommen können. Mit dieser Unmöglichkeit seine Bilder endgültig verstehen zu können spielt der Fotograf Karsten Hein, um gerade aus ihr heraus einen eigenen Zugang zu seinen Bildern bildlich vorzuschlagen.

In diesem Widerspruch ist das Misstrauen angelegt, das der Blinde der sogenannten Wirklichkeit gegenüber hegt, erst recht der Abbildung gegenüber hegen muss, und Karsten Hein akzeptiert dieses Mistrauen, arbeitet es in seine Fotografie und die Hängung seiner Bilder ein.

Die Beschreibung widerspricht dem Beschriebenen in der Wiederholung der Beschreibung, eine jede Beschreibende beschreibt anders, sie wird selbst wohl auch ein jedes Mal anders beschreiben, wenn sie ihre eigene Beschreibung zu wiederholen sucht, wird sie sich selbst womöglich widersprechen und in diesen Widersprüchen das Feld des Beschriebenen nur noch erweitern.

Die Berührung bringt eine Vorstellung hervor, die in der wiederholten Berührung erneut zerbrochen wird.

Was ist aber die Bewegung für den Blinden. Zuallererst die Veränderung, die er in seinem Außen seinem Umfeld seiner Umwelt erfährt. Bewegung ist das Erfahren der Geräusche, Gerüche, ist das Spüren das Fühlen von Wahrnehmungsempfindungen, die von Bewegungen verursacht werden. Von diesen Geräuschen her schließt der blinde Verstand auf Ereignisse, die als Ursachen für solcherlei Veränderungen in Frage kommen. Das blinde Denken ist im ganz archaischen Sinn und noch mehr als das der Sehenden auf das Funktionieren von Kausalketten angelegt: wenn es nach Rauch riecht, wird es wohl irgendwo kokeln.

Einerseits schließt das stehende Bild als Feststellung von Bewegung Geräusche aus, weil es Bewegung ausschließt. Andererseits ruft das Bild im Inneren des Blinden solche Bilder hervor, lässt in den Assoziationen, die von den Beschreibungen ausgelöst werden, Blinde von Bewegungen im Geist geradezu überflutet werden.

Erneut kommt in der Serie Bewegung von Außen ins Bild, was damit anhebt, dass BetrachterInnen sich bei Ausstellungen in Bewegung setzen müssen, um die Serie überhaupt zu erfahren. Immer wieder aber wird solche Bewegung von den Intervallen unterbrochen, die zwischen den einzelnen Serienbildern liegen. In der Serie ist zwar eine Art Ziel angelegt, das in der Bewegung erreicht werden will, das sich erfüllen soll. Einerseits wird diese Richtung in den Intervallen unterbrochen, andererseits gerät die Richtung, die die Serie einschlägt spätestens dann ins Trudeln, wenn anstatt der linearen Bewegung die visuellen BetrachterInnen von einem Cluster an Bildern überfordert werden: In aller Wucht brechen Bilder von der Wand her auf die BetrachterInnen herein.

Das Durchlaufen in seiner unendlichen Vielfalt ist Hören, ist Riechen, ist Schmecken, ist Spüren, ist Fühlen und ist eine Vervielfältigung in der gegenseitigen Durchdringung all dieser Eindrücke. Das blinde Bild als „Durchlauferhitzer“ der Bewegung, als dessen Komprimierung, als seine Ausschmelzung zum inneren Bild, zum bildlosen Bild der Blinden.

Die Berührung wiederum ist nie in der Beschreibung ihres Inneren erfüllt. Die innere Beschreibung wird von anderen inneren Erfahrungen unterbrochen, die ihr nicht immer nur Ergänzung sind. Der Sprung der Wahrnehmungsregister fordert seinen Schnitt ein, besteht auf ihn, muss sich von ihm verstören lassen. Der Bruch zwischen Sichtbarem und Sagbarem setzt sich auch zwischen den unterschiedlichen Sinnesorganen fort, deren Eindrücke nicht in je andere Sinneseindrücke übersetzbar sind.

Bewegung ist immer ein Bewegungsschnitt, eine Translation, eine Verschiebung in den Wahrnehmungsregistern und eben nicht eine alleinige Überlagerung: eher ist es ein Wechsel der Gewichtung der Eindrücke eines Sinnesorgans auf die Eindrücke eines anderen Sinnesorgans.

In der blinden Berührung zerfällt das Bild nach seiner Hervorrufung aber nicht unbedingt, es ist aber immer anfällig, ist immer offen für seine Veränderung, seine Zersetzung. Die anderen Sinne erweisen die Erfahrung ihrer Kontinuität, stabilisieren das blinde Bild, geben ihm einen nestartigen Grund, aus dem heraus es auch seine Veränderungen speisen kann.

Das Detail des Gesagten ordnet sich dem Begriff des Gesehenen unter, erfüllt seine Erscheinung, das Gespürte verstört das Gesehen-Beschriebene, reißt immer ein Loch in das imaginierte innere Bild der Blinden, wie das auch eine jede Berührung tut.

In der blinden Berührung ruft bereits der erste Moment eine Intensität eines inneren Bildes hervor, die deshalb schon allein sich in der Zeit verändert, weil in dieser Zeit andere Sinne andere Eindrücke sich hinzugesellen lassen, die das innere Bild verändern.

Der Schnitt zwischen den Serienbildern, die erzwungene Unterbrechung der auf das Foto fokussierten Aufmerksamkeit hält einerseits das Beschriebene im Gedächtnis aufrecht auf dass es fortgesetzt werden kann, andererseits hält er das Außen der Bilder der Serie aufrecht, lässt Außenwahrnehmungen genauso einströmen wie Bilder der reflexiven Bildbildung, die dem Nachdenken über das Gehörte entspringen.

Faith Healing und das Tanzen der Predigerin

Der Schnitt in der Serie ist die Öffnung der Beschreibung von Bildern durch Sehende, der die in diesem Moment virulenten Bilder auffordert ins innere Bild zu kommen. Ein violettes Tuch, unter dem eine Frau liegt, entspannt den Kopf etwas zur Seite und hier beginnt bereits die erste Schwierigkeit für den Blinden, der nicht mehr genau im Kopf hat, ob er das Bild mit der Frau, mit der Haltung der Frau nicht verwechselt in all den Bildern, die ihm im Gropiusbau beschrieben wurden.

Eines aber hat er noch genau in Erinnerung, den Ausdruck des Gesichtes, der nicht Müdigkeit ist, eher eben eine Erschöpfung als Ausdruck von etwas, das vollbracht ist, eine Lösung, eine Erlösung.

Das Akustische als Anfang: Die Hörbarkeit des Anwachsens, die Hörbarkeit des Bildes und das noch in der Erzählung. Nicht das einzelne Bild gewinnt diese Hörbarkeit, etwa Tina tanzend mit dem Mikrofon in der Hand, diese Hörbarkeit entwickelt sich als Prozess hin zum Untergang des Mikrofons in der durch die durch das Mikrofon angewachsene Menge.

Was in der Einbildungskraft des blinden Autors nämlich hervorgebracht wird sind nicht allein Bilder, einzelne Szenen, die sich aus dem Beschriebenen ergeben, eher ist es ein optisch-akustisches Panoptikum, eine Art gesehen-gehörtes Panorama, das in aller Wucht auf den bildlos Sehenden hereinbricht.

Das Akustische scheint unterzugehen um ganz anders wiederzukommen: das Bild als Darstellung dieser akustischen Veränderungen. Das Pflaster, die Menschen, die stehenbleiben und mittanzen, das raumgreifende ihrer Bewegungen, die Verschiebungen des zentralen Pols der Tina, die sich auch abwendet, die mit ihrem Handy telefoniert, andere übernehmen das Mikro, tanzen von ihr angesteckt, alles läuft über Berührung, sie fasst alle an, umarmt sie, eine Sinnlichkeit verströmend, eine ansteckende körperliche Begeisterung, eine leibhaftige Begeisterung. Das Pflaster scheint etwas auszuströmen, das es in diesem Moment aufgesogen hat und das, wäre man in der Lage es zu riechen, keine Worte fände, die es zu beschreiben vermöchten. Die zusammengeströmte Masse, die Ansteckung der Begeisterung, die Ansteckung durch Begeisterung als etwas Infektiösem. Die Serie stellt den Funken dar, der sein Symbol im Mikrofon findet, gerade aber auch deshalb das Mikrofon, weil es immer weitergereicht wird. Das Mikrofon als Ausdruck einer Vielstimmigkeit, einer anderen Art von Glossolalie einer anwachsenden Menschenmasse, deren Bewegungen sich in einem Rausch von wirbelnden Farben zu ihrem eigenen extatischen Gesang in sich und um sich herum drehen.

An diesem Punkt verschmelzen die Beschreibung der Assistentin und die Imagination des Autors, verlieren alle Authentizität des Gesehenen, geben etwas wieder, das eher eine Art gemeinsam erwirktes Gespür ist, etwas ganz anderes als die Wiedergabe einer Bildbeschreibung, etwas, das nur aus dem Dialog des Sichtbaren und des Bildlosen entstehen kann.

Das Bild des Mikrofons und dass es unterschiedliche Menschen in der Hand haben: das Mikrofon als Aufnahme des Sprechens, als Aufforderung zum Gesang, als Übernahme und Fortsetzung einer Kommunikation, Symbol einer liturgischen Handlung außerhalb der Institution Kirche. Das Mikrofon wird zur Initialzündung, der Moment, der überhaupt erst dazu führt, dass die Predigt sich verbreitet. Das Mikrofon wird bildlich aber auch zum Indiz, dass die Predigt gehört wird. Karsten Hein stellt bildlich dar was Hören ist, was Gehört-Werden auszeichnet: Nicht nur wird das Mikrofon als Mittel der Verbreitung der Predigt dargestellt, in seinem Verschwinden, und von Bild zu Bild taucht das Mikrofon mehr und mehr unter, verschwindet in dem, was es selbst hervorgerufen hat, verschwindet in der angewachsenen Menschenmasse. Die Serie stellt die Bewegung hin zu dieser Masse dar, zeigt den Ursprung von Bewegung auf und dass er gerade in der Bewegung auch wieder verschwindet: Durch das Verschwinden des Mikrofons in der Menge wird Hören zum Erhören im Anwachsen der Hörer. Das Hören der Straßenpredigt wird durch das Mikrophon zum Gesang wird Tanz, wird ekstatisches kollektives Glaubenserlebnis.

Die anwachsende Menge, die etwas Fleischliches hat, etwas Sinnliches, das über eine bloße Menge als Anzahl hinausgeht. Karsten Hein beschreibt in seinen Fotografien den Weg der angewachsenen Menge hin zu einem einzigen Körper. Die Fotoserie als Darstellung einer Art geistigen oder vielleicht eher geistlichen Ansteckung, als Um-sich-Greifen von Begeisterung, als Dokumentation eines Ansteckens und Umsichgreifens sozialer Bewegung in ihrem Anfangsstadium .

Bilder werden beschrieben und lösen in der Beschreibung erneut und ganz andere Bilder aus. Dem Blinden aber fehlt das Bild, das die anderen Bilder sich unterordnet, das die anderen dominiert. Ist dies aber tatsächlich ein Nachteil, ist das Visuelle tatsächlich immer ausschlaggebend, gibt es tatsächlich ein rein visuelles Bild im menschlichen Geist.

Ohne auf die einzelnen Bilder als Darstellungen von Situationen genau eingehen zu wollen, erhört sich der blinde Autor eine Struktur der Hängung, die statt der Linearität ein ganz anderes Strukturierungsmuster vorschlägt, das sich nach der Größe der Bilder wie der Farbe beziehungsweise dem Schwarzweiß ordnet. Als wolle der Fotograf diese innere Hierarchisierung darstellen, ordnet er seine Bilder um fotografische Magnetfelder an: etwa, wenn in seiner Faith-Healing-Serie das Bild der Frau gezeigt wird, die vollkommen entspannt nach der Befreiung vom Dämon einfach daliegt, ein Farbfoto, dessen heimlicher Hauptdarsteller eine Farbe ist, das Violett eines Tuches, unter dem die Frau liegt. Andere Bilder die den Prozess der Heilung darstellen sind nur in Schwarzweiß zu sehen und werden so zu einer Dokumentation des eigentlichen Ereignisses.

Sehende haben und nicht weniger als Blinde innere Bilder, die von den gesehenen Bildern in Zaum gehalten werden, dominiert werden, hierarchisiert werden. Nur durch ihre anderen Sinne verstehen die Blinden ihre inneren Bilder zu ordnen, die begriffliche Vermittlung geschieht nur über die Akzidenzien die Eigenschaften. Wahrnehmung als Indizienprozess durch den Dschungel von Substanzen, Wesenheiten und Begriffen. In der Beschreibung eines Bildes werden Bilder im Blinden aufgerufen, werden aber auch andere Sinne angesprochen, die mit ihren nicht-visuellen Impressionen sich zu den inneren Bildern hinzugesellen.

Das blinde Bild ist die artifizielle Erstellung einer Bilddominanz, das Artifizielle wiederum ist der Sprung in ein nicht wahrnehmbares Wahrnehmungsregister, das sich auf innere Bilder stützt. Das Innere als Einspruch wie Unterstreichung aber auch als Bestätigung und Angriff. Das Bild des Blinden ist eine Metapher des Bildes. Es übergeht das Fragmentarische des Taktilen, um in der Berührung wieder zu ihm zurückzukommen. Was ist der Begriff, mit dem der Gegenstand überhaupt eine Kommunikation zwischen Blinden und Sehenden möglich macht, weil es beiden vom Selben zu sprechen ermöglichte, ohne dass sie das tatsächlich täten.

Was schwingt tatsächlich, wenn dem Blinden von Bildern erzählt wird. Wie versetzt sich der Körper in sie hinein, was ist zu empfinden, was zu spüren. Was ist die lebendige Masse, die Tina aus der Straße heraustanzt. Wie riechen die Straßen von Daressalam.

Die Zeit demgegenüber, die zur Beschreibung benötigt wird, die Zeit in der sich Beschreibung vollzieht, die Zeit der Beschreibung in Bewegung, Zeit als ein Phänomen, das sich in Bewegung erfüllt, Ereignisse die in Bildern zusammenkommen, ihre Überlappungen dokumentierend.

In seiner Sprachwerdung wird das Bild erneut zum Geschehen, das Geschehen der Beschreibung wandelt sich vom zweidimensionalen Bild in ein dreidimensionales Geschehen der Imagination. Im blinden Bild gibt es keinen optischen Faktor der die Eindrücke, die Wahrnehmungen der anderen Sinne ausschließt: das blinde Bild ist multisensuell.

Die Zeit des Faith Healing, die sich in der Fotografie als Erschöpfung darstellt, Erschöpfung nach dem Heilungsprozess, Heilung aber auch als zentralem Aspekt von Zeit, von Vergängnis, von Vergänglichkeit . In der zweiten hier besprochenen Serie kommt Karsten Hein auf die Teleologie wieder zurück: die Heilung des Faith Healing hat Erfolg, auf den sie ja auch abzielt, die ja auch dargestellt werden soll. Eingebettet ist der ganze Prozess der Heilung in symbolhaft verwandelte Farben, aus denen die am Boden liegende Adeptin, umstellt von Weiß und Violett das Kreuz umgebend heraus ersteht, in einem Gesicht ersteht, das erschöpft ist, erschöpft aber nicht müde.

Sehen wir uns die Faktoren dieser Zeitüberwindung an: die predigende Tina, ihr Mikrofon, die Zeit der anwachsenden Menge, das in der Menge untergehende Mikrofon. Das Mikrofonbild fasst all dies zusammen, kontrahiert die Zeit und in der Serie in allen Formen des Tempus. Zugleich aber hebt das Bild die alte Ursache-Wirkung-Logik auf, das Mikro ist bestenfalls ein Symbol des Geschehens, ein Symbol eines Mittels, das in der angewachsenen Menge untergeht, das, indem es weitergegeben wird, zusammenhält und zum Anwachsen der Menge beiträgt, aber auch zu einer Egalisierung: niemand ist „Herr“ des Mikrofons, es gibt nur eine Initialzündung: ein Anwachsen der Menge aus sich selbst heraus, aus ihrer Identität als etwas, das nur als Werden begriffen werden kann.

Dem Mikrofon steht in der anderen Serie das Kreuz gegenüber, das tatsächlich immer in einer Hand bleibt, dessen Wirkung deshalb so ersteht, weil das zentrale Moment der Liturgie verbunden ist mit dem Mann, der es einsetzen kann und darf.

Nicht der geweihte Gegenstand aber hat Macht, er ist der Vermittler der Macht Christi und das über die Kirche. Obschon freilich mittels des einzigen magischen Werkzeugs im Protestantismus, mittels des Kreuzes Macht ausgeübt wird. Nur der Priester hat es in der Hand, nicht die Evangelist Tina. An diesen beiden Gegenständen wird auch bildlich die unterschiedliche religiöse Praxis deutlich, eine zentrierte ja zentralistische von Kreuz und Priester bestimmte Praxis, der die Institution anzuspüren ist, und andererseits die unhierarchische sinnlich betonte evangelikale Erweckungspraxis, die in ihren Aktionen Gläubige wie ein Magnet zusammenzuhalten versteht. Beides aber ist in Tansania nur zusammen zu denken, zusammen zu leben.

Faith Healing © Deutsches Historisches Museum/Karsten Hein