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Tastmodell zum Werk von Jeanne Mammen, Tür zum Nichts, nach 1945, © Foto: Andreas Krüger

Das Abstrakte im Nebel

Michaela Englert führt an Tastmodelle von Kunstwerken von Jeanne Mammen und Werner Heldt in der Berlinischen Galerie heran

Die Vorbereitung: um zur Tür zum Nichts von Jeanne Mammen zu kommen, um sie auf das Bild von Jeanne Mammen vorzubereiten, werden die blinden Besucher an ein anderes Bild herangeführt, das Tastmodell eines Zeitgenossen von Jeanne Mammen, der zwar wie auch Jeanne Mammen in Berlin lebte, die sich offiziell zwar nicht kannten, vom selben Galleristen in der Trümmerstadt aber vertreten waren.

Das Material, der Malgrund, Kreide auf einer gefundenen Holztür, verkleinert sie zu einem Tastmodell, vor dem der Blinde jetzt steht. Die Kreide in Schwelldruck übersetzt, die Zweidimensionalität ins Reliefartige, ins Dreidimensionale gebracht.

Der Bildinhalt: im Hintergrund, im oberen Drittel sind Häuserfassaden zu sehen. Unten Gesichter, maskenartige Gesichter. Am äußersten unteren Rand Flecken, rote Flecken

Der Blinde steht vor einem schmalen Modell einer Tür, dessen Original dem Maler Werner Heldt von einem Freund überlassen worden war, dessen Herkunft nicht ganz geklärt ist, das aber wahrscheinlich aus den Trümmern Berlins nach dem zweiten Weltkrieg gezogen worden war und das ihm als Malgrund diente, dienen musste aus Mangel an aller für seine Arbeit notwendigen Malutensilien.

Die Struktur des Bildes von der Kunstvermittlerin, Michaela Englert, grob um rissen, befindet sich der Tastende, kaum am Werk sogleich in einem veritablen Durcheinander, aus dem ihn der Tipp er solle an den oberen Rand des Bildes mit seinen Händen gehen herausrettet.

Eingefasst in einen robusten Holzrahmen ein Grund, den er nach oben zunächst mit beiden Händen streift. Eine Kante oben ertastet, ein Schnitt in den vom Blinden imaginierten Horizont hinein, ein Schnitt der Dächer gegen den Himmel, eine Barriere, die den Himmel davor schützt, dass das expressive Tohuwabohu unter ihm in ihn hinein ausläuft. Solche Expressivität stellt sich für den Blinden, der ohne ein ordnendes Bild seinen haptisch-taktilen Eindrücken regelrecht ausgeliefert ist, bereits mit dem ersten Streifen seiner Hand, seiner Finger, überhaupt seiner Haut über ein Chaos von Linien, von Schwellungen, von Flachem, von Geometrischem, von nur zu erahnenden Zeichenstrukturen dar.

Allein im Tasten ergibt sich kein Bild, es ergeben sich Formen, es ergeben sich Materialien und „sich ergeben“ durchaus als sich hingeben gefühlt, etwas, das sich einbilden lässt, vorstellen lässt, das sich vor die Berührung stellen lässt, sich vor sie als inneres Bild stellt. Die Komplexität eines Bildes kann sich meines Erachtens durch Tasten allein nicht ergeben: Formen, genauer Formpartikel, Materialien liegen unverbunden nebeneinander, was aber als Denken des blinden Bildes gerade ein Gewinn ist, denn viele Fragen können sich daraus ergeben. Zum einen sei gefragt: ergibt sich ein Bild durch das Aggregat aus berührten Formen und Materialien, oder bricht ein inneres Bild in einer jeden Berührung einfach spontan herein? Wird dieses spontane innere Bild des Berührten vielleicht dann durch eine erneute Berührung nicht gestört, zerstört, verstört, durchrissen oder verschoben, und ein Aggregat von Berührtem hierbei bereits verunmöglicht, weil eine jede weitere Berührung ein womöglich anderes oder weiteres Bild hervorbringt? Ist dieses Zerreißen eines solchen inneren Bildes nicht aber vielleicht und von der anderen Seite her gedacht, die Chance, eine Dialektik zwischen Imagination und einer sie zerbrechenden Berührung für ein Verständnis der Wahrnehmung von Blinden aufzubereiten, einen Anfang für eine andere Ästhetik des Zerbrochenen als zerbrochenem Bild sich anzunähern, um es für ein ästhetisches Denken des Blinden fruchtbar machen zu können?

Könnte sich hieraus nicht eine ganz am Materialen orientierte Poesie ergeben, eine Poesie, die sich all den inneren Bildern wie Imaginationen entlang tastet, um in Literatur Bilder sich miteinander verweben zu lassen, die nur die berührende Haut der Blinden hervorbrächte und ein Denken des Blinden wiederum ganz anders sich denken ließe? Denn das innere Bild der Blinden oder vielleicht genauer, der Erblindeten, ist mit dem inneren Bild der Sehenden nicht zu vergleichen, da es eben nicht von Visuellem verschoben oder verdrängt werden kann.

Aber gehen wir hier erst einmal zu Werner Heldts Bild Die Tür zurück: Eine Kante als Abschluss der Häuserdächer, die das Rund eines Turmes aufbricht, eine Kuppel, vielleicht aber eher eine Art Zwiebelform von der Haut erfasst, zumindest der Imagination so als ertastetes Material vorgelegt.

Dann wieder: Eine Fläche, geschmeidiger Kunststoff „zusätzlich aufgesetztes Material die Ausfüllung einer Fläche“, so Michaela Englert, und annähernd hautwarm oder sich an der Haut schnell erwärmend und ohne dass Gravuren, Risse oder andere Andeutungen von Zeichensetzungen von der Fingerhaut erfasst worden wären. Leer der Eindruck, Zeichen leer die Schwellung außer dem Zeichen, dass es sich um eine Schwellung handelt, die sich in das Hohl der sie umfassenden Finger hinein schmiegt. „Die Leere, das ist typisch für das Stadtbild Berlins nach dem zweiten Weltkrieg, mit diesen leeren Hauswänden, die leeren Brandmauern ohne Fenster, die oft zwischen den Häusern stehen“, so die Kunstvermittlerin Michaela Englert. Das Ertastete bildlich genommen: ein Hohl, in das hinein sich Leere schmiegt, ein Bild, das sich aus Tasten und Ertastetem ergibt und wäre es nicht der Alltag nach einem Krieg könnte man leichtfertig sagen: ein Bild das sich aus der Berührung oder dem Tasten „erspielt“.

Das Unberührte, das Volle, das Zeichenlose wird so zum Leeren, zum Beschädigten wo die Durchbrechung der Brandmauer, im Fenster etwa, als seine Unversehrtheit sich darstellte.

Eine unebene Fläche: „ […] die Ausfüllung einer Fläche, im Original ist das mit schwarzer Wachskreide schraffiert. Wie quergestreift von hier aus“ und Michaela Englert führt den Blinden an die Stelle, von der sie spricht.

„Aber was bedeutet das?“, fragt der Blinde. „Nichts, es bedeutet nichts. Es bedeutet die Unebenheit der Fläche“, so Michaela Englert bei der Tastführung mit dem blinden Autor, den das Quergestreifte an das Durchstreichen des Sinns erinnert, eine ganz anschauliche Art der Verneinung.

Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Zeichens, die Form des Zeichens als Schraffur, als Verschattung, die Übersetzung des Unkonkreten in tastbare Struktur, in die Taktilität, die als solche nur im Vergleich, in der Parallelführung der klaren Form mit eben seiner Schattenseite, erneut eines Zeichens also, eben des Fensters zu erkennen ist.

Zugleich wird die Form in sich differenziert vorgestellt, eben als Erkennbarkeit wie deren Schatten. Das wiederum ist für die Form rückwirkend von Bedeutung, wo die schwarze Fläche differenziert mit Eigenschaften wie weich belegt wird, dazu aber später im Bild von Jeanne Mammen.

„Innerhalb einer Umrisslinie drei Punkte. Man neigt dazu, sie als Gesicht zu interpretieren, weil unser Gehirn schnell überall Gesichter sehen will“, so Michaela Englert und die Frage stellte sich, woher das rührt, könnte es sein, dass Wesen mit Augen als Berechenbarer erscheinen? Eine Anthropomorphisierung etwa, die die Welt und all ihre Kräfte einfach handelbarer erscheinen lässt? Menschen sind zu besiegen, mit Menschen kann man verhandeln, mit Göttern und Dämonen ist wiederum nicht so gut Kirschen essen und niemand weiß, wo das hinausführt. Was aber, wenn die Augen nur die Schlitze von Gespensterlaken sind, die Augen gerade als Zeichen zu sehen sind für die absolute Unberechenbarkeit von unberechenbaren Wesen, die durch die Gassen huschen, Überbleibsel dessen, was einst als Menschen bezeichnet worden war, wovon nur Masken übrig blieben? Und was ist unterhalb der Gespenster zu sehen, tastbare Flecken, in der Konsistenz den Gespenstern nicht unähnlich, von denen die Sehenden sagen, sie seien rot. Wären sie das Rot des Blutes, das den Gespenstern fehlt, das den Toten fehlt wie die Seele, von denen früher gesagt wurde, sie wohne im Blut und im Herzen. Die Wesen, die hier herumhuschen sind Geister, das Blut, das sie früher durchfloss, „liegt“ fleckig und abgesondert am unteren Bildrand.

Aber zunächst die vier Gesichter über den Flecken, ein größeres die anderen eher kleiner und undeutlicher zu erkennen als das rechte: Flecken für das was als Punkte für die Augen stehen könnte, und das Wort Flecken als Bezeichnung dessen, was der Blinde da ertastet hat, legt sich verräterisch über das, was unten als Blut-Flecken bezeichnet worden war. „Verklumpt“ nennt Michaela Englert die Gesichter, „deren Umrisslinien ganz nahe beieinander liegen.“

In der Farbgebung - Schwarz und Rot sind die dominierenden Farbtöne - kommt das Symbolhafte ja Metaphorische des Gemäldes oder vielleicht eher der Zeichnung deutlich heraus. Während Schwarz als „verbrannt und beschädigt“ zu sehen sein könnte, wirkt Rot wie „frisch und unversehrt“. Wie eine Behauptung, eine These stellt Heldt seine beiden Kirchtürme ganz obenauf in seinem Bild: der eine eben schwarz, der andere rot. „Die Stadt war teilweise zerstört, andere Teile der Stadt waren unversehrt. Kirchtürme mit Kuppeldach sind nicht gerade typisch für Berlin“, so Michaela Englert. Sie könnten also auch ein Symbol sein für das, was der Krieg aus der Großstadt, aus der Metropole wieder gemacht hat: eine dörfliche Kleinstadt, bevölkert von Gespenstern, leblos, in jedem Falle blutleer.

Was aber ist eine Tür, welche Funktion hat sie, welche hat sie im Bild, was ist ihre Notwendigkeit und welche Art von Koordinaten bestimmen sie. Eine Tür, die als Malgrund herhalten musste, weil es in der Nachkriegssituation nichts anderes gab als den Schutt, den der Krieg zurückgelassen hatte. Der Schutt wird zum Malgrund, zu einem Malgrund aber welcher Zeit und wohin führt die Tür, die von Werner Heldt und erst recht von Jeanne Mammen in ihre Bilder jeweils eingebracht wird?

Der Grund des Werkes von Werner Heldt ist Schutt, die Kunst dieser Zeit kann nichts anderes sein als aus Schutt entstiegen und unwillkürlich denkt Mensch an die Becher-Hymne, die staatstragend als Nationalhymne der DDR zum Aufbruch singen wollte, eine klassenlose Gesellschaft am Horizont visionierend und der Weg dorthin nur Verrat, Verrat am ganz Anderen einer Gesellschaft.

Jeanne Mammen Die Tür zum Nichts

„Das Bild, das vor uns zu ertasten ist, wirkt so als bestünde es nur aus Flächen und Linien, die öfter sich zu Dreiecken zusammenfinden. Die Firma Tactile Studio schlug vor, zuerst das Bild als Ganzes wiederzugeben und dann Einzelaspekte nochmal gesondert darzustellen. Es gibt also zuerst das ganze Bild auf DIN A 4 verkleinert und auf einem zweiten DIN A 4 Blatt einzelne Aspekte des Bildes, weil wir in Gesprächen mit Blinden festgestellt hatten, dass das Liniengewirr zu komplex ist, um Aspekte der Komposition heraustasten zu können. Wir beginnen dennoch erst einmal mit dem gesamten Bild und es ist durchaus gewünscht, dass Sie sich in den Formen verlieren, dass Sie das Bild als abstraktes Werk wahrnehmen. Die erste Frage wäre also, welche Formen, welche Linien werden ertastet“, so Michaela Englert zu Beginn ihrer Heranführung an Jeanne Mammems Tür zum Nichts, ein Bildtitel, der nicht von der Malerin selbst stammt, der seine abstrakte Metaphysik aber gut verdeutlicht.

Aber was ist abstrakt von der „Sicht“ der tastenden Haut des Blinden aus, der alle Abstraktion in eine Körperlichkeit wieder übersetzt, sie ganz konkret verfleischlicht?

Gehen wir von einer Bildbeschreibung aus, so geht der sehende Blick von einem Gesamteindruck in immer feinere Teile einer konkret vorstellbaren Figur oder Situation. Er hätte etwas vor sich, das im Bild auf die eine oder andere Weise reproduziert wäre. Letztlich blieben nur Punkt, Linie und Fläche - auf diverse Weisen gekrümmt und in ein Volumen und in spezifische Zusammenhänge zueinander gebracht - übrig. Von einer so reduzierten, stark geometrisierten Sicht auf die Abstraktion, die natürlich viele Mängel ausweist, vor allem weil auch Abstraktion selbst viele Gesichter hat, ausgehend, suchen wir uns jetzt dem Bild von Jeanne Mammem zu nähern und wir tun dies in Erinnerung an das Bild von Werner Heldt, der uns auf die Idee solcher Vorstellung von Abstraktion brachte, ohne dass sein Bild freilich irgendetwas mit Abstraktion zu tun hätte. Und genau hier liegt der Schlüssel für ein Verständnis eines Blinden von Abstraktion: dem Blinden muss ohne eine Imagination einer konkreten Form alles in seinem Tasten zunächst abstrakt erscheinen, ein übereinander Hereinstürzen von Bildpartikel, von Formen oder Materialien, die sich zu einer Vorstellung durchaus noch lichten können, aber freilich nicht lichten müssen und hier erst begänne das, was Sehende vielleicht als abstraktes Bild bezeichnen würden.

Wir nähern uns diesem Bild in einem Dialog zwischen blindem Tasten und Bildbeschreibung, die für mich und gerade nach der Erfahrung mit dem Gemälde von Werner Heldt als naheliegend erscheinen muss, Inklusion als eben Dialog zwischen einer Sehenden Kunstvermittlerin, einem Blinden und seiner Assistentin.

Zuerst auffällig der Kontrast zwischen dem Glatten und dem sehr Rauen, zwischen Flächen, die spürbar von konturierenden Linien umgeben sind; ein Kontrast also zwischen dem eigentlichen Raum und seiner Grenze. Die sehende Assistentin, aufgefordert nur das zu beschreiben, was sie sieht ohne es zu interpretieren, sieht Rahmen, sieht Dreiecke und dann: „Diese Fläche, die hat keinen Halt, die fällt aus dem Bild raus.“ „Was meinst du mit Fläche?“ „Da wäre einerseits eine rechteckige Fläche, eher schmal und lang, eine Fläche, die in sich verschoben ist, und eine andere eher kürzere Fläche. Die Farben: dunkles Braun-Schwarz und Eierschalenweiß. Das Schwarz befindet sich eher im mittleren Bereich, wirkt wie der Schatten der Farbflächen und hält sich eher im Hintergrund. Es ist in Dreiecksform und sieht aus wie ein geteilter Mantel. Das Schwarz ist grundsätzlich eher organisch im Gegensatz zu den hellen Flächen, die geometrisch erscheinen, kantig. Die schwarzen Flächen sind eher rundlich, scheinen lebendiger, weicher und beweglicher. Auf der anderen Seite bricht die eckige Fläche fast wie eine Axt in das Schwarz hinein“, so die Assistentin.

Dann gibt es nochmal eine schwarze Fläche auf der anderen Seite des Bildes. Eine schwarze Fläche, die für die Sehenden glatt ist, oben hat sie eine gerade Kante unten ist sie rund. „Dieses Rund hat für mich, der das blind ertastet einen irgendwie anderen Charakter als das Grau, das hier wohl auch in der Nähe zu finden ist “, so der blinde Autor, der dann fortfährt: „Es fühlt sich so an, als ob sich etwas in der Materialstruktur verändern würde, es ist weder glatt noch rau. Ich habe den Eindruck in Nebel zu greifen, was natürlich eine Assoziation ist, die einen Eindruck ein-zu-bilden sucht, der in der Welt der Sehenden sein Bild zu finden sich anschickt.“ In Nebel greift man nicht, man greift in ein Material, aus dem sich der Nebel bildet, man spürt also das Material, spürt etwas Feuchtes, oder man spürt eine Staubigkeit. „Was in einem Tastbild zu spüren sein soll, muss von einer Materialität hervorgerufen worden sein, das dann eine solche Assoziation hervorruft. Einen Grund für eine solche Assoziation aber gibt es in dem Tastbild nicht, außer vielleicht einer Ahnung, dass sich das Material verschoben hat, ohne dass ich sagen könnte, was sich da verändert hätte“, so der Autor.

„Das ist interessant, weil im Kunstwerk da auch Nebel ist. Die Kontur ist da nicht deutlich. Die Farben sind an dieser Stelle vermischt - wie Nass in Nass gemalt. Im Tastmodell ist das eigentlich nicht so, auf dem Bild ist da aber eine Unschärfe“, so Michaela Englert und der Autor antwortet ihr von seinem Tasten aus: „Auf dem Tastmodell verlässt das Glatte das Glatte, ohne dass dem Finger klar werden würde, was da eigentlich passiert und wie das geschieht. Es findet eine Art taktile Blendung statt. „Ich war in meinem Tasten vollkommen irritiert, ich habe in gewisser Weise den Raum verloren, obgleich da Linien und Flächen durchaus zu erkennen waren“, so die Erfahrung des Autors beim Ertasten des Bildes von Jeanne Mammen.

„Ich führe nochmal zurück zum „Nebel“: einerseits treffen sich da zwei starke Konturlinien andererseits ist da im Bild tatsächlich eine Unschärfe, im Tastmodell ist das nicht so. Wir haben hier eine Übereinstimmung von visuellen und taktilen Eindrücken und ich würde das hier einfach so stehen lassen“, meint Michaela Englert.

„Aber es ist da tatsächlich etwas zu spüren, dass da etwas anders ist, es ist wie kitzelig“, so die Assistentin und Michaela Englert: „Es ist an dieser Stelle etwas flacher, nicht so erhaben. Das ist tatsächlich so und es fühlt sich so an, als ob sie da nochmal mit Schleifpapier darüber gegangen wären.“

Eine leichte Abflachung, die beim Tastenden ein Gefühl von Unschärfe auslöst. Im wiederholten Tasten kommt der innere Eindruck, das innere Bild nicht noch einmal zustande und auch die Assistentin findet die Stelle, die diesen Eindruck auslöste nicht noch einmal auf.

Die Dreiecke

Momente zwischen Auflösung und Struktur.

Was ist das eigentlich, wo das menschliche Gehirn eine Tür sieht und dann wieder nicht sieht? Wo taucht die Tür, das Sehen einer Tür zuerst auf, wo und warum verschwindet sie wieder und wie? Verschwindet sie tatsächlich?

Zwei weitere Kompositionsstudien, in deren erster die Linien herausgearbeitet werden, die die Sehenden als die Linien sehen, die das Gehirn als Tür sieht. „Es sind die Linien besonders hervorgehoben, die Sehende als Tür wahrnehmen, genauer: die Umrisslinien, die Sehende zum Bild einer Tür zusammenfügen“, so Michaela Englert.

„Unterschiedlich starke Linien, die am stärksten hervortretende Linie ergibt, nachgetastet, eher ein Trapez als ein Rechteck, das in Perspektive mit Fluchtpunkt dargestellt wird. Die Oberkante wie die Unterkannte sind diagonal geführt und die Oberkannte läuft in ein Dreieck, das vorher bereits getastet wurde. Die Reihe von kleineren Linien innerhalb der Tür, nicht so stark ausgeprägt, laufen in dieses Dreieck hinein, in das Dreieck als Fluchtpunkt, von dem aus die Tür erst zu verstehen ist. Das Außen des Schwarz eher rundlich, das innerhalb der Tür eckig. Der Fluchtpunkt scheint, wie ein Magnet alles in seine Richtung hin zu verziehen, scheint Einfluss auf die Schwerkraft zu nehmen, indem er zur Perspektive hin ausrichtet“, so der tastende Blinde.

„Absolut. Nichts ist mehr richtig“, antwortet Michaela Englert. „Alles kippt“, so die Assistentin, „wie ein Kippbild, wie ein Hologramm.“

Dann ein zweites Dreieck auf der zweiten taktilen Kompositionsstudie. Auch hier eine Linie, die stärker als andere hervortritt. „Sie bildet ein Z aus drei Linien“, so der blinde Autor.

„Unten sind mehr Linien und es ist schwieriger sie genau zu tasten. Die Linien gehen parallel auch auf einen Punkt im Dreieck zu, nur dass der hier nicht außerhalb der Tür, außerhalb der Mauer liegt sondern mitten drin. Es gibt also durch die zwei Dreiecke zwei Fluchtpunkte, zwischen denen das Bild hin- und herkippt. Die Tür wird also in zwei Perspektiven dargestellt, einmal nach innen gekippt ein anderes Mal nach außen. Man weiß also gar nicht, kommt die Tür auf einen zu oder geht sie von den Betrachtern weg, wird sie auf oder zu gemacht, öffnet sie sich oder geht sie zu, oder schwingt sie zwischen beiden Richtungen hin und her, wird sie wie ein Fensterflügel vom Wind auf und zu geschlagen. Und jetzt kann man in die Interpretation gehen: wo ist Außen wo ist Innen, wo gehe ich hin, wo komme ich her“, so Michaela Englert

Den Titel aufgegriffen, der dem Bild nicht von Jeanne Mammen selbst gegeben wurde, der allerdings durchaus treffend verstanden werden kann, der wohl durchaus der Zeit des Entstehens des Bildes geschuldet ist, dem Faschismus als dem Nichts, dem der Mensch gerade gegenüberstand, den er durch die Nazis als Ende aller Menschlichkeit sehen musste. Die Richtungslosigkeit, das Dazwischen- Stehen, keine Richtung mehr erkennen, wo in Gestalt der Tür das Außen keinerlei Momente der Orientierung erkennen lässt und der grundlegende Verlust der Orientierung ist wohl da gegeben, wo Innen und Außen als ununterscheidbar zurückbleiben.

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Tastmodell zum Werk von Werner Heldt, Tür, um 1946, © Foto: Harry Schnitger